Schattenspiel in der Therapie

Einführung

Als für unser erstes Schattenspielbuch (Canacakis, Jorgos / Haehnel, Gerd / Söll, Florian: Wir spielen mit unseren Schatten. Vorschläge für Familie, Freizeit, Schule und Therapie. Reinbek bei Hamburg 1986, Rowohlt TB 7960) nach mehreren ausverkauften Auflagen eine komplette Neubearbeitung nötig wurde, wurde schnell deutlich, dass es schon aufgrund der enormen Weiterentwicklung des Menschenschattenspieles nicht mehr sinnvoll sein würde, pädagogische und therapeutische Aspekte in einem gemeinsamen Buch zu behandeln. So fiel u.a. der therapeutische Teil weg, der nun nur noch antiquarisch zugänglich ist.

Ich freue mich nun, dass der Bestseller-Autor Jorgos Canacakis einer Neu-Veröffentlichung des therapeutischen Teils auf meiner Homepage zugestimmt hat. Damit sind wichtige Quellen für das Schattenspiel wieder allgemein zugänglich, etwa die faszinierende Zeitzeugen-Schilderung des griechischen Karagiózis-Schattenspieles oder auch die Theorie zur Erklärung der Diskrepanz zwischen unserem hauptsächlich düsteren europäischen Verständnis des Schattens einerseits und dem viel optimistischeren Schattenbild anderer Kulturen, von dem wir nicht nur als Schattenspieler so viel lernen können: “Erst durch die Projektion nach außen, so wie es uns das Menschenschattenspiel ermöglicht, erhalten wir die Chance, die Schatten-Anteile in uns anzusehen und uns damit zu befassen.” – „Du kannst vor deinem Schatten nicht weglaufen. Ihn weghaben zu wollen,bedeutet, dich selbst weghaben zu wollen.“ – „Dein Schatten kann manchmal dein Schlupfwinkel werden, in dessen Winkel du dich ausruhen und erholen kannst.“ -„Darum: Befreunde dich mit deinem Schatten. Er meint es gut mit dir.“ (so Jorgos Canacakis)

Viel Freude beim lesenden Wiederentdecken,
verbunden mit einem herzlichen Dankeschön an Jorgos,
wünscht Gerd Haehnel!

Kapitel 1: Meine Schwäche für den Schatten

(= ehemaliges Kapitel 9 aus dem Buch: Canacakis, Jorgos / Haehnel, Gerd / Söll, Florian: Wir spielen mit unseren Schatten. Vorschläge für Familie, Freizeit, Schule und Therapie. Reinbek bei Hamburg 1986, Rowohlt TB 7960; alle Rechte bei Jorgos Canacakis)

Eine Frau – vom Schatten verfolgt

Den Anstoß, mich mit dem menschlichen Schatten auch therapeutisch auseinanderzusetzen, erhielt ich von einer meiner Klientinnen vor drei Jahren, 1982. Die Beschwerden, die sie mir vortrug, wuchsen innerhalb der ersten Sitzung zu einem respektablen Beschwerdekatalog. Das Besondere an diesen Beschwerden war, daß sie eine Wandeltendenz zeigten. Mal ging es los mit Herzbeschwerden, die sie als Herzschmerzen bezeichnete, dann wurden sie zu Kopfschmerzen, Magenbeschwerden und schließlich zu Atembeschwerden, begleitet von Angstzuständen, die sehr diffus waren.

Die Klientin war ziemlich verunsichert, weil es trotz einer jahrelangen Geschichte von Untersuchungen und einer Serie von Überweisungen, die sich nach dem gleichen Prinzip wiederholten (Hausarzt – Facharzt – Krankenhausaufenthalt – Veränderung des Beschwerdebildes und neue Beschwerden – Hausarzt – Facharzt – Krankenhaus usw. – Chronifizierung der Beschwerden) nicht gelungen war, eine organische Ursache für diese Symptome zu finden. Angst hatte sie auch davor, daß ich sie, wie andere zuvor, für eine Simulantin oder Hypochonderin halten könnte.

Ich beruhigte sie und sagte ihr, daß für unsere momentane Zusammenarbeit wichtig sei, was «da ist» und was sie empfinde, ohne daß wir nach Ursachen, Erklärungen und Beweisen zu suchen bräuchten. (Das beschriebene Beschwerdebild kann man zur groben Orientierung als «psychovegetative Störungen» bezeichnen.) Aus dieser eindimensionalen Betrachtung wurde ich von ihr schon in der zweiten Sitzung herausgeleitet, als sie mich mit folgenden Sätzen die Mehrdimensionalität und die Zusammenhänge des Krankheitsgeschehens erkennen ließ: «Der Schatten meines Mannes verfolgt mich Tag und Nacht. Er ist mir auf den Fersen bei meinen Tätigkeiten tagsüber oder nachts, vor und während des Nachtschlafs. Ich bin tagsüber unkonzentriert, und nachts schlafe ich wenig und schlecht.»

Die Symptome hatten einige Monate nach dem Tod ihres Mannes vor ca. fünf Jahren angefangen. Das Phänomen mit dem Schatten trat sporadisch während der letzten zwei Jahre auf, und in der letzten Zeit häuften sich die Situationen der Schattenempfindung bis zum Unerträglichen. Die Klientin war durch den Schatten sehr verängstigt. Deshalb mißlangen anfangs gemeinsame Versuche, mit dem Schatten in Kontakt zu kommen. Wenn sie sich auf ihn konzentrierte, verschwand er aus ihrer Vorstellung, andererseits vermied sie ihn bewußt, wenn wir ihn bei der Sitzung «suchten».

Bei der dritten Sitzung schlug ich vor, mit unseren beiden Schatten zu spielen. Ich zeigte es ihr auch gleich. Ich drehte den Strahler meines Schreibtisches zur weißen Wand gegenüber und stellte mich mit dem Rücken zum Licht zwischen Wand und Lichtquelle. Mein Schatten war groß und verzerrt durch den Winkel des Lichteinfalles. Ich versuchte einige Bewegungen mit meinem Körper. Diese wirkten auf der Wand spielerisch und lustig. Dann stellte ich mich seitlich und ließ meine Finger an der weißen Wand lustige Schattenspiele ausführen.

Das Bestaunen und Mitlachen hielt nur einige Minuten an. Dann stieg sie unaufgefordert ins Schattenspiel ein. Anfangs spielte sie mit dem Schatten ihrer zehn Finger. Nach etwa zehn Minuten des Spielens und Lachens hörte sie plötzlich auf und veränderte ihre seitliche Position zur Lichtquelle, drehte sich und betrachtete ihren großen Schatten. Anfangs war sie neugierig, dann aber wirkte sie ruhiger und mit der Zeit fast erstarrt. Sie schien an ihrem Schatten etwas zu entdecken, was ihr Angst machte. Ich erkannte dies an ihren weitaufgerissenen Augen, an ihrem schnellen Atmen und an den ersten Schweißtropfen auf ihrer Stirn.

Als sie versuchte, der Spannung des Schattenanblicks durch einen Schritt zurück zu entgehen, vergrößerte sich der Schatten auf der Wand, und es schien, daß sie diese Spannung nicht mehr lange aushalten würde. Kurz bevor sie es nicht mehr ertragen konnte, rief ich ihr zu:

«Ich bin auch hier und kann dir helfen. Möchtest du versuchen, den Anblick des Schattens noch ein wenig auszuhalten?»
Ohne den Blick von der Wand wegzunehmen, nickte sie mir zu.
«An was erinnert dich der Schatten? Kennst du ihn?» fragte ich sie.
Sie sagte kein Wort, aber sie nickte wieder.
«Ist das der Schatten, der dich die letzten Jahre verfolgt hat? Hat er Ähnlichkeiten mit ihm?»
Auch diesmal nickte sie.
«Schau ihn dir nochmals richtig an, .. . seine Form, … seine Größe,… seine Dunkelheit… Was löst bei dir dieser Schatten aus?»
«Angst, viel Angst! » sagte sie.
«Wo sitzt diese Angst?»
«Im Herzen. Mein Herz flattert … Auch in meinem Magen, der sich umdreht, und mir wird‘s übel.»
«Was ist noch da?»
«Ja, mein Kopf fühlt sich an wie aus Holz, und ein Druck da drinnen macht mir Kopfschmerzen.»
«Möchtest du versuchen, jetzt die Augen zu schließen, nachdem du dir nochmals den Schatten auf der Wand angeschaut hast?»
Als sie die Augen schloß, schob ich ihr einen Stuhl hin und half ihr, es sich mit geschlossenen Augen bequem zu machen.
«Bleibe in Kontakt mit der Angst im Körper und höre, was der Schatten will und was er dir sagt.»
Es folgte eine Sitzung, aus der klar wurde, daß dieser Schatten ihr eigener war, der ihr starke Vorwürfe über den Tod ihres Mannes machte: Der Schatten, der die ganzen Schuldgefühle in seinen dunklen Ecken trägt und ihr nichts verzeiht.

Genauere Hinweise zur Methodik und zum Medium dieser Therapiesitzungen finden sich in den folgenden Kapiteln. Im Moment ist es lediglich wichtig festzuhalten, daß der Schatten der Klientin und mir ermöglichte, eine unerledigte Trauer zu entdecken und diese bei den nachfolgenden Sitzungen durch trauertherapeutische Methoden […] zum Abschluß zubringen. Schon am Ende der Sitzung war sie sehr zufrieden und erleichtert. Ich hatte das Licht meines Schreibtischstrahlers ausgeschaltet, und der Schatten war nicht mehr da.

Mit der Zeit verlor sie die Angst vor dem Schatten, vermied ihn nicht mehr, und in den meisten Folgesitzungen suchte sie die Auseinandersetzung mit ihm. Nach drei Monaten konnte sie ihren Schatten als ein Teil ihres Daseins erkennen, akzeptieren und ganz in ihre Person integrieren. Die psychovegetativen Störungen sind mit dem Verschwinden des «bösen Teils» des Schattens mit der Zeit auch weggeblieben.

Dieses Erlebnis mit der Klientin machte mich neugierig und ermutigte mich, mich mit diesem Medium weiter auseinanderzusetzen.

Bis das Tuch in Flammen aufging: Schattenspiele in meiner Kindheit

Die Erfahrungen mit meiner Klientin und die Beobachtung, daß bei vielen Arbeiten mit Patienten oder mit wachstumsorientierten Gruppen der Ausdruck «Schatten» oft vorkam, ließen bei mir vermehrte Aufmerksamkeit hierfür entstehen.

Der Gedanke, mich mit dem Schattenphänomen weiter zu befassen, fiel bei mir wegen meiner Kindheitserinnerungen auf fruchtbaren Boden.

Schöne Erinnerungen habe ich an meine Kindheit in Griechenland, als ich sechs Jahre alt war und des öfteren KARAGIÓZIS, ein Schattenspiel mit kunstvoll geschnittenen Figuren aus Karton, in einem nahegelegenen Sommerkino in Begleitung meines Vaters oder meines älteren Cousins erlebte.

Ich spüre auch jetzt, wie die angenehmen Regungen von damals heute noch meine Gefühle in Bewegung versetzen. Meine Begeisterung für diese Kunstgattung und das Medium, das meine Phantasie ins Unermeßliche trieb, vermehrte sich bei jedem Besuch. Ich wollte nicht nur als Zuschauer beteiligt sein, sondern selber mit dem Medium handelnd ins Erlebnis einsteigen.

Dieses Schattenspiel hat seine Wurzeln im arabischen Raum. Es hat sich in Griechenland, während des vergangenen Jahrhunderts, zu einem eigenständigen Volksschattentheater entwickelt.

Das KARAGIÓZIS-Schattentheater ist eine Kunstform, die für das Volk wie geschaffen zu sein scheint. Volk, das sind einfache, arme Menschen, Analphabeten. Diejenigen, die es entwickelt haben, gehören genauso zum Volk wie die, für die es entwickelt wurde. Es braucht keine besondere Ausstattung außer einem Holzgestell, auf das man ein weißes Tuch spannt, keine besonderen Räume, weil eine Wiese genügt, wo es oft genug eine gute Akustik gibt, und man braucht kein teures Material, nur Figuren, die man selber nach vorgegebenem Muster malen, diese dann auf einen Karton kleben und ausschneiden kann.

In dieser Theaterumgebung habe ich sehr früh erfahren, daß durch das Medium ausgedrückt werden kann, was einen innerlich bewegt. Gefühle konnten und durften dort gespürt und den anderen auch offen gezeigt werden: nicht nur, was einem Freude machte, sondern auch, was einem Angst machte, und das oft lange Verdrängte und aus Angst vor Bestrafung Vermiedene. Im gemeinsamen Erlebnis war es sehr angenehm, sich mit den verschiedenen Figuren und Charakteren zu identifizieren, mit ihnen Aggressionen zu zeigen oder die Typen, die dort vorkamen, stellvertretend für einen selber leiden zu lassen.

Auch Themen wie Sexualität und Moral wurden dort für mich zum erstenmal richtig abgehandelt. Wenn z. B. Tabuwörter vorkamen, für die man daheim mit einer Tracht Prügel belohnt wurde, durfte man hier lachen, und in dem Durcheinander konnte man diese Wörter sogar selber laut wiederholen. In der Satire wurde der diebische Bäcker gegeißelt, dessen Brote von Tag zu Tag weniger wogen, oder Arzt und Wissenschaftler wurden herausgestellt und lächerlich gemacht, die immer nur ein unverständliches Fremdwörterkauderwelsch sprachen. Durch Übertreibungen wurden die Reden von Politikern in ihren notorischen Versprechenstiraden entlarvt.

Die Schatten der Figuren auf dem Tuch ließen einerseits viel Raum für die kreativen Phantasiekompositionen der Zuschauer, und andererseits wurde damit alles prägnant, verständlich und manches Unerklärliche des Lebens einsichtig gemacht. Geschichtliche Ereignisse konnten in ihrer Bedeutung für das Heute hervorgehoben und damit verarbeitet werden. Die Helden konnten ihre Taten wiederholen, und wir Zuschauer konnten daraus Kraft schöpfen. Die aggressiven Schatten auf der Leinwand durften morden und viel Böses tun, und da wir als Zuschauer Ähnliches wünschten, dachte niemand daran, die Helden für das grausame Verhalten zu kritisieren.

Oft waren die Schattenfiguren für die Zuschauer Modelle für das richtige Weinen, Lachen, Fluchen, aber auch für liebes, zärtliches, weiches Verhalten und sogar für Schwäche, die plötzlich auch Sympathie bei den Zuschauern entstehen ließ.

Es dauerte nicht sehr lange, und nach guten Vorbereitungen konnte ich mit Hilfe meiner zwei Schwestern im Alter von neun Jahren auch so ein KARAGIÖZIS-Spiel veranstalten. Die Programme waren natürlich alle handgeschrieben und wurden in der Nachbarschaft verteilt. Unsere Bühne war neben dem Hühnerstall, und wir hofften, daß die Hühner sich schlafen legen würden, bevor die Vorstellung anfing. Erschrocken waren wir, als schon zehn Minuten vor dem Beginn der Platz neben dem Hühnerstall mit Zuschauern vollbesetzt war und die Neuankommenden keinen Platz mehr fanden.

Wenn meine Mutter an diesem Abend gewußt hätte, daß das Schattentuch, welches auf das Holzgestell des Hühnerstalls gespannt war, das weiße, seidene Bettuch aus ihrer Mitgift war, hätte sie die Vorstellung bestimmt platzen lassen.

Es war das Ereignis meines damaligen Lebens! Das Kerzenlicht flackerte leicht im Wind, und die Schatten der Figuren wirkten anregend für die Phantasie. Im Schutz des Schattens konnte ich an diesem Abend und an anderen, die nachfolgten, viel von meinen Bedürfnissen und versteckten Wünschen ausdrücken. Ich konnte singen, schimpfen, Wut zeigen, den vorgegebenen Text durch einen eigenen, entsprechend der aktuellen Lebenssituation verändern und bereichern. Viele Kinder, die mit ihren Müttern als Zuschauer anwesend waren, konnten ihre Begeisterung nicht zurückhalten und applaudierten lange, als ich in einem Stegreifspiel einen Schatten einer besonders präparierten Figur auf die Leinwand warf, der in Verbindung mit einer hohen Stimmgebung und den dazu passenden Sätzen unsere böse Lehrerin erkennen ließ, die wir «Hexe» nannten.

Es war herrlich, in die Schatten hinein viel von meinen unausgedrückten Gefühlen zu geben — auch gegenüber Personen, die ich nicht mochte.

Im Schatten der Schatten konnte ich damit viel von dem, was mich innerlich bedrohte, loswerden und verlor die Angst vor Konsequenzen und Verlust von Zuwendung. Die Zuschauer belohnten das Spiel der Schatten mit Applaus und Begeisterung.

Das ganze Unternehmen fand nach einiger Zeit, gegen Ende des Sommers, wo auch die Ferien bald aufhörten, einen jähen und wenig glorreichen Abschluß, als unglücklicherweise eine Kerze hinter dem Projektionstuch durch die Hitze sich unbemerkt neigte und das weiße Tuch plötzlich in Flammen stand. Es war natürlich auch ein tolles Spektakel, weil das Ganze zum Spiel paßte, da in dem Moment eine Kanonenkugel fallen sollte. Die Kinder waren ganz begeistert und dachten, daß es dazugehörte. Sie veranstalteten einen Reigentanz, wobei viele Pflanzen und Blumen im Garten zertreten wurden. Daß unsere Mutter nicht gerade erfreut war, läßt sich aus dem verhängten Spielverbot erkennen.

Meine Faszination für das Schattenspiel konnte mir aber seit damals niemand wegnehmen.

Im Schatten steckte für mich also eine ganze, noch nicht entdeckte, faszinierende Welt. Indem ich mich an all dies erinnerte und es bedachte, wurde mir klar, warum das Scbattenereignis mit meiner Klientin so viel bei mir auslöste und mich neugierig machte.

Die Schatten der Antike

Um die Arbeit mit dem Schatten verständlicher zu gestalten, ist es notwendig, auf seine Bedeutung in der Antike mit ihren Mythen und archaischen Vorstellungen und auf den Zusammenhang einzugehen, aus dem die mythologischen Motive entstanden sind. Folgen Sie mir also ein wenig in die Vorstellungen vom antiken Schattenreich. Auch wenn für ein vollständiges Verständnis eine gewisse Grundkenntnis der griechischen Mythologie vorausgesetzt werden muß, so mag doch auch ohne diese deutlich werden, daß es in der griechischen Mythologie nicht nur die allgemein bekannten und in uns und unserer Kultur nachwirkenden negativen Vorstellungen vom Hades, dem Reich der Schatten, gibt, sondern auch viel hoffnungsvollere Vorstellungen.

Bei Ursituationen des Lebens wie z. B. Verliebtheit, Schwangerschaft, schwerer Krankheit, Geburt oder Tod, Träumen, Spontanbildem in Tagträumen und Gefahrensituationen oder Ähnlichem im Leben werden uns schattenhafte Anteile bewußt, die uns an JUNGS grenzenloses kollektives Unbewußtes und an dessen archetypische Strukturen erinnern. (Man könnte dies «ontogenetische Schattenarchetypen» nennen.)

Aus den Erlebnissen unserer Vorfahren in der Antike fließt unbewußte Energie zu uns, die die Dunkelheit und die Schatten mit einer sonderbaren Faszination ausstattet: sie macht daraus eine Atmosphäre, die auch mit Angst, Desorientierung und Labilisierung zu tun hat, die aber auch Phantasie, Kreativität und immense Neugierde aktiviert.

Was zu uns aus unserer Urgeschichte herüberfließt, wenn wir die archetypischen Strukturen aufdecken, ist meistens mit einseitig Negativem behaftet. Vielleicht haben Ereignisse in der Menschheitsgeschichte durch Äonen (Jahrtausende) sowie die Art ihrer Verarbeitung durch die Menschen dazu beigetragen.

Wenn wir das Bild des Schattens der antiken Sagenwelt und Mythen genauer anschauen und auf uns wirken lassen, entdecken wir bei unseren Vorfahren allerdings auch eine differenzierte Betrachtung, z. B. daß die Polaritäten Geburt und Tod keine Gegensätze sind, die sich ausschließen, sondern zwei Aspekte einer Wirklichkeitseinheit, die Leben bedeutet: also eine dialektische Wortverbindung, deren Synthese im Wort Leben zu finden ist und eine polare Einheit schafft.

Apollo z. B. ist nicht nur Sonnen-, sondern auch Todesgott. Die Erdmutter Demeter war als Verwalterin Plutos nicht nur Herrin des Schattenreichs, sondern auch die Göttin der Lebenswiege. Der Weg durch das Schattenreich war keine leicht zu bewältigende Aufgabe, endete aber nicht unbedingt im Nichts oder im Chaos. Chaos und Nichts waren schon lange strukturiert durch die Entstehung von Gaia, Uranos und Titanen, Giganten, Zyklopen und Hekatoncheires. Viele mythische Helden kämpften mit Dämonen und schrecklichen Ungeheuern sowie dem Bösen des Dunkels, setzten sich so mit der Schattenwelt auseinander, und dieser Weg führte zum Heilwerden des eigenen Selbst. Dennoch hat die griechische Unterwelt des Hades immer einen negativen Beigeschmack behalten.

Für dieses negative Image des Hades gibt es keinen uns bekannten Grund, nur Spekulationen. Hades galt als der meistgehaßte aller Götter. Er war die Personifizierung der Endgültigkeit des Todes, der in seiner Schattenwelt zu finden war.

Die Toten stellte man sich in einer Traumwelt voller Schattenrisse vor: Die Seelen nehmen Abschied und gehen zum Hades in ein dunkles Reich der Schemen und Schatten. Diesem Schattensein kann die Seele nicht entgehen, sie muß hindurch. Hier herrscht Skotos (Dunkelheit). Man begegnet hier auch den Furien oder den Erinnyen.

«Sie sind greise Göttinnen. Sie haben Schlangenhaare, Hundehäupter, kohlschwarze Körper, Fledermausflügel und blutunterlaufene Augen. In ihren Händen tragen sie messingumwickelte Geißeln, und ihre Opfer sterben unter Qualen.» (Graves 1955, 5. 107)

Diese Zorn- und Rachegeister leisten auch innere Zerstörung. Sie sind personifizierte Gewissensbisse, die einen Sünder nach der Verletzung eines Tabus befallen. Sie sind nichts anderes als die bekannten Wutausbrüche der Seele gegen sich selbst. Das hat zwar eine reinigende Kraft, scheint aber sehr schmerzhaft zu sein, wenn es längere Zeit in Anspruch nimmt.

Die Hadesfahrt Richtung Tartaros, wo das Schattenreich ist, bedeutet völlige Verlorenheit, Zwecklosigkeit, Leid ohne Ende, unseliges Leben, sogar Vernichtung und ewiges Aufhören des Ichs.

Styx, der grausame Fluß, bedeutet die endgültige Abgrenzung von den Lebendigen. Der grauhaarige Charon mit dem schmutzigen Gewand und den feuerspeienden Augen bringt einen auf seinen Schultern durch den Fluß, und das ist eine Fahrt ohne Hoffnung auf Wiederkehr. Diese von Skotos beherrschte griechische Hölle hat als das Reich der Schatten eine sonderbare, furchterregende, unendliche, dunkle Tiefe. Hier geschieht Sinnloses ohne Ende, und alles wiederholt sich, bis es zur Qual wird, so wie es von Sisyphos, Tantalos und den Danaiden her bekannt ist.

Die Wirkungen solcher Überlieferungen auf die Nachwelt werden aus zwei Grabinschriften in Pompeji ersichtlich:
«Nach dem Tod gibt es nichts mehr, nur was du siehst, ist der Mensch. »
«Freund, der du dieses liest, lebe dein gutes Leben, denn nach dem Tod gibt es weder Lachen noch Scherz noch Freude.»

Diese Schwermut beherrschte nicht nur die Bewohner Pompejis vor Jahrtausenden angesichts des Todes und der dazugehörenden Vorstellung vom Schattenreich des Hades, sie beherrscht auch die heutigen Menschen in der Konfrontation mit der Dunkelheit und dem Schatten. Es sind archetypische Elemente, die unbewußt zur Wirkung kommen und Angst und Faszination gleichzeitig auslösen. Aber – wie schon angedeutet – eine differenziertere Betrachtung der antiken griechischen Welt läßt uns auch ganz andere Vorstellungen vom Hades erkennen!

Die pelasgisch-orphische Zeit mit dem theoretischen Hintergrund der Metempsychosis (Seelenwanderung) erlaubt ein hoffnungsvolleres und sinngebendes Bild von diesem Schattenreich, und zwar dadurch, wie man sich bei den «eleusinischen Mysterien» in Attika in Eleusis bei Athen verhält.

Dieses «mystische Drama», ein mystisches Fest und sinnenhaftes Feiern mit dionysischen, rauschhaften Elementen (Katharsis, Ekstase, orgiastisches Verhalten), läßt die Teilnehmer ganzheitliche Erfahrungen mit sich selber, sowie mit ihrer sozialen und ökologischen Umgebung machen. Das festliche Treiben befreit sie nicht nur seelisch und körperlich, sondern auch ihre Imagination und Phantasie, die ihnen dann kreative Gedankengänge erlaubt. Es entsteht ein anderes Bild vom Jenseits und dem Leben dort. Die Mysterien bieten den Anwesenden die Möglichkeit, die engen Formen des Denkens und die Beschränktheit der Phantasie zu überwinden und das Leben im Hades farbiger auszumalen. Der Hadesaufenthalt enthält somit einen anderen Sinn und andere Inhalte. Das Gestaltlose und Milchige des Skotos (Dunkelheit) gewinnt deutliche Umrisse, und die Unterwelt erhält eine positivere, kontrastreichere und anschaulichere Darstellung.

Bei der orphischen Katabasis (Fahrt in die Unterwelt) hat man somit eine phantasievollere, lebendigere Vorstellung vom unsichtbaren Reich der Schatten, die damit auch nicht mehr nur Grauen auslösen.

Dabei spielen die Erdmutter Demeter und ihre Tochter Persephone eine wichtige Rolle. Demeter ist als Herrin der Toten zornig und manchmal auch furchtbar böse, wenn es die Situation verlangt. Gleichzeitig aber kann sie auch gütig und fruchtspendend sein. Sie ist sowohl Grabesgöttin wie auch Göttin der Lebenswiege. Persephone ist der sterbende Mensch, der die Unterwelt mit der Oberwelt halb-jährig tauscht. Dieses Auf und Ab ist in einen Kreislauf eingebunden, wie die zyklische Abfolge der Jahreszeiten: im Herbst das Sterben, im Frühling Neugeburt. Hades wird damit zum Grab, das auch Geburt bringt. Persephone entrinnt dem Hades, obwohl sie zu ihm zurückkehrt.

Statt aus dem Quell des Vergessens, Lethe, wird aus dem Quell der Erinnerung getrunken, was an frühere Geburten erinnert und somit die Hoffnung einer schöneren Wiedergeburt nach dem Tod bestärkt. Diese Hoffnung wächst im Tod mit. Der Tote, der begraben wird, verpuppt mit der Zeit. Die Leiche verkrümmt sich dann zum Embryo und erwartet geduldig ihre Wiedergeburt. Das Grab begräbt einen nicht und behält einen nicht auf ewig, sondern trägt zum Reifen bei. Aus dem Verpuppten im Schattenreich soll der Schatten wiedergeboren werden.

Das eleusinische Geschehen erlaubt es auch uns vielleicht, eine eleusinische Hoffnung zu haben, ähnlich dem Frühlingsbild: wie die Erde selber aus der Leichengestalt wieder hervorkommt. Auch Dionysos, als Gott des feuchten und befruchtenden Lebens, trägt die dialektische Bezeichnung […] nächtlicher Tag (Schatten und Tag).

Die eleusinischen Mysterien erhalten durch die Einbeziehung des Fruchtbarkeits- und Frühlingsgottes Dionysos mit den orgiastischen, ekstasischen und reinigenden Feiern einen besonderen Inhalt, welcher das Bild von der Schattenwelt verändert. Die Anabasis (Aufsteigen) aus der Schattenwelt des Hades geschieht im Frühling, wenn die Sonne wieder strahlt. Die Hadesschatten weichen, und es bleiben nur die lebendigen Schatten der wiedergeborenen Menschen sichtbar. Die fruchtbare Demeter und der dionysische Akzent lassen das Dasein im Hades nur als einen Zwischenaufenthalt erscheinen.

Die prähellenistische Hoffnung auf Wiedergeburt gewinnt Gestalt, das Nichts formt sich, und die Überwindung des Todes wird zum Inhalt für den Weg des Menschen in seiner Auseinandersetzung mit dem Tod. Er wird auch sensibler für die Bedeutungen von Schattenphänomenen und achtet somit mehr auf seinen eigenen Schatten, auch während seines irdischen Daseins.

Vieles von dem hier Gesagten mag dem heutigen Leser allzu mystisch erscheinen. Aber jedenfalls kann man als Ergebnis festhalten, daß es auch in der griechischen Mythologie eine viel hoffnungsvollere Sicht der Schattenwelt gibt, als allgemein bekannt ist. Könnte dies nicht auch für uns eine Aufforderung sein, unser eigenes Verhältnis zum Schatten zu überdenken?

Kapitel 2: Der Schatten als Medium

(= ehemaliges Kapitel 10 aus dem Buch: Canacakis, Jorgos / Haehnel, Gerd / Söll, Florian: Wir spielen mit unseren Schatten. Vorschläge für Familie, Freizeit, Schule und Therapie. Reinbek bei Hamburg 1986, Rowohlt TB 7960; alle Rechte bei Jorgos Canacakis)

In den bisherigen Abschnitten dieses Beitrages ist vielleicht deutlich geworden: Aufgrund der Mythen und der verbreiteten Vorstellungen, die sich mit ihm verbinden, kommt dem Schatten eine besondere Bedeutung zu, die ihn als Medium in der Therapie geeignet erscheinen läßt.

Selbstverständlich können das Menschenschattenspiel als Methode und der Schatten als Medium kein eigenständiges Therapieverfahren sein; ich integriere beide in meine therapeutische Arbeit, in der ich verschiedene Elemente – u. a. psychoanalytisches Gedankengut, Erkenntnisse der Gestaltpsychologie, Grundannahmen des Existentialismus und östliche Meditationsformen – zu einem Ansatz dialogischer Behandlung verbinde. Durch das Hinzuziehen von kreativen Methoden, Kunst- und Gestaltungsmedien sowie bewegungs- und körperzentrierter Verfahren wird integrative Gestalttherapie zu einem Therapiesystem, das die Komplexität und die vielen Dimensionen menschlicher Existenz in ihren Zusammenhängen und Verwobenheiten zu berücksichtigen versucht. […] Dabei geht es um die Entwicklung von Identität im Lebenszusammenhang, abgespaltene Persönlichkeitsanteile auf die Bewußtseinsebene zu holen; zu lernen, damit umzugehen und die Kräfte dafür zu entwickeln und zu stärken, wozu die künstlerische Betätigung besonders beiträgt.

Der «Schatten» als künstlerisches und kratives Medium weckt durch seine natürliche «Ladung» mit Symbolik und Phantasie Gefühle und Ausdrucksmöglichkeiten außerordentlich. Dies wurde schon in den vorhergehenden Ausführungen, wo es um die Wirkungen des Schattenspiels ging, deutlich. Wie nun kann man sich diese aus psychologischer Sicht erklären? Und wie kann man sich dies dann in der Therapie nutzbar machen?

Der Schatten als eine der ersten Erfahrungen nach der Geburt

Schon drei Monate vor der Geburt hat das Neugeborene Kontakt zu seiner Umwelt durch sein Hörorgan. Nach der Geburt kommt die Stunde der Augen: Das (immer noch meist) grelle Licht und die Unfähigkeit des optischen Organs, in dieser Entwicklungsphase Strukturen wahrzunehmen, sind eine Quelle der Unsicherheit für das Neugeborene. Diese dauert solange, wie das Organ Zeit braucht, um sich an die neue ungewöhnliche Umgebung zu adaptieren. Diese Zeit aber ist mit Streß verbunden.

Recht schnell entwickelt das Kind die Fähigkeit, den Kontrast hell / dunkel wahrzunehmen, und bald schon auch kann es den Haaransatz vom übrigen Gesicht der Mutter, wenn auch verschwommen, unterscheiden. Das Kommen und Gehen, das Sich-Nähern oder Sich-Entfernen des Schattens der Mutter, der bald immer deutlicher wird, sind ebenfalls mit körperlichen und seelischen Reaktionen des Säuglings verbunden. Nahender Schatten bedeutet: Nahrung erhalten, Körperkontakt, Wärme, Wohlgefühl, der sich entfernende Schatten meistens Angst und ungute Empfindungen.

Aussagen von Patienten und Klienten in Einzel- oder Gruppenarbeit, die in die Tiefe geht, oder bei Tiefeninterviews bestätigen diese leib-seelische «Atmosphäre» im Angesicht eines Schattens: der Schatten also als eine «nachakustische» und «präverbale» Erfahrung, d. h. vor jeglicher Spracherfahrung und noch bevor das Neugeborene in der Lage ist, sich orientieren zu können. Diese Phase ist für die Arbeit mit dem Schatten von besonderer Bedeutung, ich möchte sie als «präoptische Schattenphase» bezeichnen.

Der Lastesel

Phantasie-, Traum- und Tagtrauminhalte, die in unserem Schatten zu finden sind, können unsere Entfaltungsmöglichkeiten stark beeinflussen, indem sie uns z. B. dauernd stimulieren oder aber unsere Wahrnehmung verzerren und unsere Handlungsmöglichkeiten hemmen. Unter «Schatten» versteht die Jungsche Psychologie (vgl. Jung, C.G.: Allgemeine Überlegungen zur Psychologie des Traumes. Ges. Werke, Bd. 8, Zürich 1967) diejenigen Eigenschaften und Tendenzen der Persönlichkeit, die das Ich nicht zu akzeptieren bereit ist, nicht wahrhaben möchte und kann. Es ist eine Art «Negativ» des Bildes, das wir uns von uns selber machen, das aber sehr von unserer eigenen Geschichte und unserer kulturellen Herkunft abhängt und weitgehend unsere persönliche Entwicklung bestimmen kann.

Was wir nicht sein wollen, findet sich meistens in unserem Schatten wieder. Häufig sind aber die abgewehrten Anteile Bestandteil unserer Persönlichkeit. Das Abgewehrte und Verleugnete verschwindet nicht ganz, sondern verweilt im dunklen Hintergrund des Unbewußten und wartet auf Stimulation, um seine Spannung an den Organismus weiterzugeben. Wenn wir die Augen vor dem eigenen Schatten schließen, dann verschwindet nicht der Schatten, sondern wir versinken in Dunkelheit, so daß der Schatten nicht mehr sichtbar sein kann. Da diese Dunkelheit nur durch das Schließen der Augen entsteht, müßten wir dauernd die Augen geschlossen halten, um den Schatten in uns nicht zu «sehen». Ein solches Verhalten würde bedeuten, blind durch die Welt zu wandeln, was mit Angst, Unsicherheit, Bedrohung und Orientierungslosigkeit verbunden wäre.

Als Alternative bleibt, die Augen zu öffnen und hinzunehmen, daß unser Schatten immer da ist und ständig auf uns wirkt und daß er vorhanden bleiben wird, solange wir leben.

Er wird uns an unsere anderen Seiten erinnern, weil er auch alles enthält, was uns fehlt, und alles, was wir haben und sein wollen, aber uns nicht trauen.

Andererseits ermöglicht uns unser Schatten, ihm alle vermiedenen, verdrängten, verleugneten und abgespaltenen Anteile aufzuladen, die wir so nah in uns als bedrohlich erleben, und damit übermäßige und unerträgliche Spannung für kurze Zeit ein wenig zu reduzieren. Indem wir es versuchen und es erreichen, die abgespaltenen und nicht akzeptierten Anteile nach draußen zu bringen, in Form von Projektionen als «Feindschema» und als das «Böse», erhalten wir die Gelegenheit, den Gegenpol in uns sichtbar und erlebbar zu machen.

Das therapeutische Spiel mit dem menschlichen Schatten, wie ich es vorschlage, ermöglicht uns diese Gegenüberstellung und gibt uns die Chance, eine Auseinandersetzung zu wagen, dabei den Gegenpol in uns und draußen wahrzunehmen, zu identifizieren, ihn näher anzuschauen und damit der Polarität in der eigenen Persönlichkeit zur Deutlichkeit zu verhelfen und so den Weg zur Integration zu eröffnen. Unseren Schatten in uns können wir selber nicht sehen, d. h. wir haben und tragen in uns einen blinden Fleck. Solange der Schatten «in uns» ist, bleibt er unsichtbar. Erst durch die Projektion nach außen, so wie es uns das Menschenschattenspiel ermöglicht, erhalten wir die Chance, die Schatten-Anteile in uns anzusehen und uns damit zu befassen.

Wenn Menschen sich einer therapeutischen Erfahrung mit dem eigenen Schatten auf der Leinwand ausgesetzt haben, sind sie oft entsetzt und empfinden Angst und Mißmut für dieses «Gegenüber», das ihnen anfangs gänzlich unbekannt zu sein scheint. Der vorherrschende Umgang mit der Erfahrung ist dann, den Schatten einfach wieder verschwinden zu lassen – in der trügerischen Erwartung, davon nun befreit zu sein.

Dem therapeutisch interessierten Laien sei hier gesagt — und das muß an dieser Stelle genügen: Wenn wir den Schatten in uns spüren, uns aber wenig darum kümmern oder den Schatten nach außen projizieren, aber gleichzeitig die Augen davor schließen, dann wird er zum Daueropponenten und versinkt gleichzeitig in gut ausgesuchten, dunklen Ecken unseres Körpers. Es dauert dann nicht sehr lange, bis sich dieser Schatten in ein körperliches oder seelisches Symptom verwandelt. Und dieses versucht dann weiterhin, etwa durch einen körperlichen Schmerz, uns auf Unerledigtes, Unabgeschlossenes und Abgelehntes aufmerksam zu machen.

Und was tun die meisten von uns in solchen Fällen? Sie gehen auf das Symptom mit einer direkten Konfrontation zu, die nur auf Beseitigung hinzielt. Dafür gibt es genügend Mittel – von Tabletten bis zu operativen Eingriffen, Bestrahlungen oder starken «chemischen Keulen», aber auch Alkohol und anderen leichten bis harten Drogen. Wir werden das Symptom los, das als Ausdruck des oppositionellen Schattens in uns mit Gewalt an seiner sinnvollen Präsenz gehindert wird. Wir sind blinder als zuvor! Wenn wir uns aber mit unserem Schatten und seinem Symptomausdruck auseinandersetzen, kann ein Dialog entstehen, der zur «Zweiheit» und Integration führt. Und dieses bedeutet, gesund zu werden.

Hieraus kann man die Bedeutung ersehen, die das therapeutische Menschenschattenspiel gewinnt, wenn daraus eine klare und faire Auseinandersetzung mit unserem Schattenanteil resultiert.

Schatten als «synrespondentes Phänomen»

Der menschliche Schatten ist ein Medium, dessen Inhalte, wie aus den vorherigen Kapiteln ersichtlich wird, sehr komplex und vielschichtig sind. Zudem enthält er ein starkes Stimulierungspotential. Die Bezeichnung «synrespondentes Objekt», wenn es um Beziehung und Raum geht, und «Transrespondenz», wenn es um Prozesse mit dem Medium geht, ist notwendig, um Abgrenzung zu den anderen Medien zu erreichen und auf seine Vieldimensionalität hinzuweisen.

Syn- und Transrespondenz bestehen aus: «respondere» = «gegenüberliegen, beantworten, sich verantworten», was aber auch «abwehren» und sogar «gemäß und ähnlich sein» bedeuten kann, und dem ebenfalls lateinischen Wort «trans» = «über, hinaus, ein normales Maß überschreitend» und schließlich aus dem griechischen Verbindungswort «syn» = «zusammen, mit».

«Synrespondentes Objekt» bedeutet somit, daß der Schatten ein «Gegenüber» darstellt, mit dem man in Kontakt kommen kann. Der Schatten als körperliches Ich auf der Leinwand gegenüber, von Angesicht zu Angesicht, eine Art Maske, eine dunkle Maske, die sich über den Schattenkörper zieht und sich zweidimensional bewegt, die einen Eindruck auf das Selbst macht und neue Reaktionen hervorruft: «Das Licht macht aus einem zwei. Die Lichtwellen mit den Lichtpartikeln tragen einen Teil von mir hinüber. Wir kommen in Dialog. Ich habe Angst und Achtung vor dir, hoffentlich du auch vor mir. Das Licht verbindet uns und bringt auch Impressionen herüber. Ist das Licht weg, dann bleibe nur ich hier und du nur in meiner Erinnerung.» Auf diese Weise könnte der «transrespondente Prozeß» sich noch lange hinziehen, bis es zu einem Konsens zwischen den beiden käme.

Der Raum zwischen Schatten und Darsteller sorgt für klare Abgrenzung. Beide werden durch das Licht verbunden. Der Schatten bleibt, solange der Darsteller bleibt. Der darstellende Mensch erhält durch den Schatten ständig Informationen über sein Verhalten, was auch eine Beziehungsaufnahme zu sich selbst bedeutet. Seine Schattenerscheiung löst bei ihm Reaktionen aus, die zur Verstärkung oder Reduktion seines Ausdrucks beitragen können. Durch sein Spiel mit dem eigenen Schatten auf der Leinwand wirkt er nicht nur bei den anderen Schattenspielern, sondern in starkem Maße auch auf sich selber. Dieses kann auch Wiederherstellung oder Neuherstellung der Kommunikation zu der Welt und zu sich selbst bedeuten.

Der Dialog mit dem Schattenteil läßt Defizite und Wünsche deutlich werden, was zur Klarheit verhilft und einen Teil der Selbstentfremdung auffhebt.

Im transrespondenten Prozeß erlebt der Patient den Therapeuten oder die Gruppenteilnehmer in ihren Schattendarstellungen als Modelle. Er traut sich dann an Handlungen heran, die tabuisiert, verboten, blockiert oder gar nicht in seinem Repertoire sind. Er wagt sich an sexuell anmutende Bewegungen, er läßt Angst kommen und erlebt sie bewußt im Spiel, er probiert symbolisch zu schlagen und Mordszenen darzustellen, er spielt Sterben und traut sich, mit dem Tod oder mit Verstorbenen zu sprechen. Solche Szenen stimulieren die Kreativität, und es entstehen nicht nur aggressive Momente, sondern auch spielerische und künstlerisch anmutende Darstellungen.

Der Menschenschatten als Medium in der Therapie hat folgende Vorteile:

  • Er bietet ein erleichterndes und förderndes Vehikel, das die Dimensionen Raum, Objekt und Prozeß in sich trägt und in sich bindet.
  • Da aus dem Schatten auf der Leinwand keine Informationen und Botschaften aus dem Gesichtsbereich für den Zuschauer ersichtlich sind, die auch einer Interpretation ausgesetzt wären, dient die Zweidimensionalität als Schutz für den Darsteller. Er kann sich hinter dieser «fließenden, schwarzen Maske» auch verstecken, und bis er sich damit vertraut fühlt, braucht er sich nicht durch überflutende Informationen aus einem realen Gesicht verunsichern zu lassen und bedroht zu fühlen.
  • Die «fließende, schwarze Maske» bietet die Möglichkeit, aus der bestehenden Sicherheit in tiefere und unsichere Bereiche zu stoßen und durch kreative Imagination bestehende blockierte Grenzen zu überschreiten.
  • Durch die Rückkoppelung, welche aus der Gleichzeitigkeit von drei Rollen – Autor/Regisseur, Darsteller, Zuschauer – entsteht, ist es möglich, Kontakt zu diesen Anteilen des Selbst herzustellen und durch differenzierte Zuwendung zum authentischen Ausdruck und zum Verständnis für sich selber zu gelangen.
  • Die Schatten der anderen in einem Schattenspiel mit einer Gruppe fungieren als Modell zur Nachahmung, reißen mit und machen auf Anteile aufmerksam, die im Schatten sind, die man aber selber nicht wahrnimmt.
  • Die Gruppe kann als Schattengruppe die Rolle des Chores wie im antiken Drama übernehmen und dem Darsteller beistehen und ihn unterstützen oder ihn herausfordern.
  • Durch die Gruppengemeinsamkeit der Schatten, durch das Gefühl, ein Teil des Ganzen zu sein, herrscht eine schützende und nicht belastende Atmosphäre, die im gemeinsamen Erleben mit dem Leiter/Therapeuten an Bedrohlichkeit verliert, den Umgang mit Störungen ermöglicht und den Weg zur Problembewältigung öffnet.
  • Zuletzt ist noch auf die Bedeutung der Schattensymbolik hinzuweisen, und dabei handelt es sich nicht um eine «statische», sondern um eine «dynamische», also eine «sich wandelnde» Symbolik.

Kapitel 3:

Ziele und Inhalte der therapeutischen «Schattenarbeit»

(= ehemaliges Kapitel 11 aus dem Buch: Canacakis, Jorgos / Haehnel, Gerd / Söll, Florian: Wir spielen mit unseren Schatten. Vorschläge für Familie, Freizeit, Schule und Therapie. Reinbek bei Hamburg 1986, Rowohlt TB 7960; alle Rechte bei Jorgos Canacakis)

Wir sehen den Menschen als Ganzheit, dessen Basis sein Leib ist, als Ort sinnenhafter Wahrnehmung und als Ausgangspunkt, aber auch als Ende der jeweiligen Existenz. Existenz ist immer im Lebenszusammenhang gesehen als «Mit-Sein» in der Welt. Sinn ist dann möglich, wenn er mit den anderen gesucht wird. Der Mensch besteht aus gesunden wie auch aus kranken Anteilen. Also: Gesundheit und Krankheit sind zwei wichtige Dimensionen eines Ganzen, des ganzen Menschen. Erkrankung wird als Prozeß, als etwas, was sich in Wandlung befindet, und nicht als etwas Statisches gesehen, bei dem Körper, Geist und Seele nicht im Einklang sind.

Ziel unserer Bemühungen ist die Wiederherstellung der Selbstregulationstätigkeit des Organismus durch Mobilisierung aller Potentiale im Klienten, die ihm ermöglichen herauszufinden, wie er diese Schwierigkeiten selbst erzeugt.

Wahrnehmungsaufgaben während der Schattenarbeit sollen die gesunden Anteile und Potentiale, die er nicht kennt, oder solche, die blockiert brachliegen, mobilisieren.

In der Vorbereitungsphase sollen aus der Betrachtung der Lebenszusammenhänge folgende Fragen beantwortet werden:

  • Was ist im Lebenszusammenhang verloren und wird nicht zurückkehren? Was legt eine Trauerarbeit nahe?
  • Welches Defizit steht im Vordergrund und drängt nach Auffüllung oder ist gestört und drängt nach Wiederherstellung?
  • Was gibt es für ein Potential, das noch nicht mobilisiert wurde?
  • Welche gesunden Anteile sind noch da, die bewußt gemacht werden sollen und erhalten werden müssen?
  • Wie stark ist die Entfremdung zu sich selber und zu den anderen, und welche Störung gibt es in der Beziehung der Person zur Welt?

Dabei geht es im einzelnen um Aufgaben und Probleme wie die folgenden:

  • Auseinandersetzung mit dem eigenen Schatten, wo Persönlichkeitsanteile sind, die bis jetzt vermieden und nicht akzeptiert wurden.
  • Konfrontation mit Anteilen im eigenen Schatten, die in Form von Regeln, Normen, Verboten als verinnerlichte Seiten unserer Eltern und Lehrer uns am Leben hindern, da sie viel Energie binden, die wir zum Leben brauchen.
  • Die positiven Seiten der Schatten in uns entdecken, die zum Gleichgewicht beitragen können.
  • In tiefergehenden Arbeiten den Vorteil des Schattens in Anspruch nehmen und das existentielle Todesthema ansprechen.
  • Unklare Persönlichkeitsanteile transparent machen und neu zu strukturieren versuchen.
  • Den eigenen Schatten als Partner für einen inneren Dialog gewinnen und als Zufluchtsort benützen, wenn es anders nicht mehr auszuhalten ist.
  • Im Schatten das Spielerische entdecken und damit zum eigenen Ausdruck gelangen.
  • Durch die Arbeit mit dem Schatten Kompetenz im Umgang mit sich selber und den anderen erwerben und diese Kompetenz in der Welt draußen verwenden.
  • Durch die Schattenarbeit frühere Erlebnisse und damit den eigenen biographischen Kontext begreifen, um dabei die eigenen Möglichkeiten für eine lebenswerte Lebensgestaltung zu entdecken.
  • Durch die erlebnisaktivierenden Möglichkeiten methodisch aufgebauter Schattenarbeit verdrängte, abgespaltene und entfremdete Anteile aus Szenen und Ereignissen des Lebens im Nacherleben und Neuerleben integrieren.

Aneignung als spezifisches Ziel der «Schattenarbeit»

Aneignung, «reowning», ist eine der wichtigsten Grundlagen der Gestalttherapie […]. Die Phänomene und die Verläufe der Schattenarbeit sind Wandlungsprozesse, die zum Wachstum der Persönlichkeit führen und dann assimiliert und integriert werden.

Bei diesen Prozessen geht es um Aneignung oder, besser gesagt, um Wiederaneignung von abgespaltenen Anteilen, die unerledigt geblieben waren, vermieden und verdrängt wurden: Lebensanteile, die dem Lebensganzen wieder zugeführt werden.

Entfremdung vom Leib, von anderen, von der Welt, von der Zeit, von der eigenen Geschichte wird bei der Schattenarbeit bewußt gemacht durch die Wahrnehmung der besonderen Distanz zum eigenen Schatten. Das projizierte «Böse» und alle unangenehmen Eigenschaften der eigenen Persönlichkeit werden auf der Leinwand gut «sichtbar», von «Angesicht» zu Angesicht. Die Schattenarbeit ermöglicht diese Auseinandersetzung und führt zum Akzeptieren der projizierten Anteile, die wieder zu eigenen gemacht werden, so daß man wieder «ganz» werden kann.

Solche Aneignungsprozesse finden statt, wenn man Lebensbilanzen macht und durch Lebensrückschau und Lebensvorschau die ganze Lebensspanne ordnet und «wieder ganz macht». Angeeignet wird auch noch Leibliches, was zu einer Versöhnung mit dem Leib führt, aber auch zu besseren zwischenmenschlichen Kontakten.

Ansätze zur Strukturierung der Schattenarbeit

Die Arbeit mit dem Schatten bedarf einer Struktur, die eine Orientierung ermöglicht und so den therapeutischen Umgang mit dem Schatten erleichtert. Dazu sollen die folgenden schematischen Darstellungen beitragen.

Jedes der folgenden 6 Schemata zeigt einen idealtypischen «Schattenzustand». Die Kreise stellen die Person, das Selbst, die Persönlichkeit dar, die Halbkreise in Schema 5 und 6 zeigen die Möglichkeiten des therapeutischen Spiels mit dem Schatten.

Schema 1: Undurchlässige Schattengrenzen

 Undurchlässige SchattengrenzenDie Person grenzt sich vom eigenen inneren Schatten total ab, ein Kontakt wird vermieden. Der Schatten gewinnt in Krisensituationen an Bedrohung, und man muß den Abgrenzungsbalken durch zusätzliche Versteinerung und damit durch Isolation von der anderen Hälfte immer stärker sichern. Entfremdung und Schuldgefühle herrschen vor.

Schema 2: Grenzlosigkeit und Schattenüberflutung

Grenzlosigkeit und SchattenüberflutungDie Grenzen zur inneren Schattenseite sind durchbrochen. Der Schatten überflutet die ganze Persönlichkeit. Die Person wirkt «konfluent». Der Kontakt zu sich selber existiert nur als diffuse Empfindung, und für einen Dialog gibt es kein «Gegenüber» mehr.

Die Schattenseite übernimmt auch bei der «Sonnenseite» der Persönlichkeit die Oberhand. Permanente Angst und Orientierungslosigkeit sind die Folgen.

Schema 3: Schattenabwesenheit

SchattenabwesenheitEs gibt weder Licht noch Schatten. Dies erinnert eher an einen Dämmerzustand. Die Person läßt keinen Schatten in sich entstehen. Die ganze Energie wird dazu verwendet, die Schattenseiten permanent nach außen zu projizieren (= negative Projektion). Die Person weiß nichts von der Existenz eines eigenen Schattens und scheint auch nichts davon wissen zu wollen. Bei diesem Defizit an Lebensenergie, bei dieser Willenlosigkeit und Bedürfnishemmung verliert man sich in gedanklichen Schweifexkursionen.

Schema 4: Klare transparente Schattenabgrenzung

Klare transparente SchattenabgrenzungWo es Licht gibt, gibt es auch Schatten. Der innere Schatten folgt dem Licht, und es entsteht ein Prozeß, der für Gleichgewicht sorgt. Die zwei Seiten der Persönlichkeit sind im Dialog. Es herrscht klare Abgrenzung, guter Kontakt und Verständnis füreinander. Die Transparenz der Grenze vermindert die Angst der einen vor der anderen Seite.

Schema 5: Bewußt projizierte Eigenschatten

Bewußt projizierte EigenschattenDas Ansehen des eigenen, auf eine Projektionsfläche geworfenen Schattens erlaubt die direkte, offene Auseinandersetzung mit den eigenen Anteilen, die auf der Leinwand sichtbar werden. Die inneren Zustände in Schema 1,2 und 3 können damit einer Verarbeitung unterzogen werden.  Der Abschluß dieses Prozesses ermöglicht die Bewußtmachung des eigenen Schattens und erleichtert die Integration in die eigene Persönlichkeit (= positive Projektion).

Schema 6: Die Schatten der anderen

Die Schatten der anderenBei dem Spielen mit dem menschlichen Schatten, dem eigenen, aber auch dem der anderen, entsteht die Möglichkeit, die anderen Schatten als Fläche für die eigene Projektion in Anspruch zu nehmen oder die anderen Schatten der Gruppenteilnehmer, einzeln oder in Gruppen als «Schattengegenüber», auch als Modelle und als Dialogpartner in den Prozeß einzubeziehen.

Methoden, Techniken und zusätzliche Medien

Das Schattenspiel wird als Methode erst effektiv, wenn es in einen offenen, therapeutischen Ansatz integriert wird. Es würde hier zu weit führen, wollte ich den gestalttherapeutisch orientierten Rahmen meines Ansatzes und die Integration der Schattenarbeit im einzelnen darstellen. Ich will aber dennoch einige Hinweise darauf geben, wie durch die Schattenarbeit Wahrnehmung, Assimilation und Integration von abgespaltenen Anteilen und dadurch Wachstum der Persönlichkeit gefördert werden können.

Übungszentrierte Schattenarbeit

Ziel ist dabei, die Aufmerksamkeit zu wecken und die Wahrnehmung auf den Schatten zu konzentrieren sowie zu einer differenzierten Wahrnehmung des eigenen und der fremden Schatten zu kommen. Durch die «Einübung» soll der Akteur mit dem Medium vertraut, der Weg für kreative Phantasieanregung durch den Schatten geöffnet werden.

Phasen bei diesem Vorgehen sind: Schattendifferenzierungstraining, Kontextbildung von Schatten, Bewegung und Leibempfindungen, Improvisationsübungen mit dem Schatten, Imaginations- und Bildererlebensübungen. In Verbindung mit dem Schatten werden auch Stimm- und Atemübungen sowie gruppengerichtete Ubungen initiiert.

Erlebnis- und spielzentrierte Schattenarbeit

Der Schatten kann das ganze Erlebnisspektrum in Bewegung versetzen und somit eine ganze Reihe von Stimmungsqualitäten lebendig werden lassen wie Faszination, Angst, konzentratives Verharren, lustvolles und genießerisches Tun, Trance, Höhepunkterlebnisse, emotionale Ausbrüche, die als Katharsis erlebt werden können. Darüber hinaus wird spielerisches Tun angeregt, das zudem die Erlebnis-und Ausdrucksfähigkeit erweitert und bereichert.

Dies wird durch geeignete Vorschläge für Einzel- und Gruppenimprovisationen mit dem Schatten ermöglicht.

Konfliktzentrierte und aufdeckende Schattenarbeit

Die Auseinandersetzung mit dem Schatten führt nicht nur zur Bearbeitung der aktuellen Problematik, sondern läßt auch viele Erinnerungen und Unerledigtes aus der Vergangenheit auftauchen.

Der Prozeßverlauf wird begleitet von Improvisationsvorschlägen, die es ermöglichen, die in den Vordergrund gerückten unerledigten Anteile in der «positiven Projektion» zu verarbeiten.

Der vierstufige Ablauf der Schattenarbeit

(Dabei orientiere ich mich an dem sogenannten tetradischen Prozeß nach Petzold 1977.)

Der Ablauf – wie er im folgenden geschildert wird – ist Entwicklungs- und Verarbeitungsprozeß zugleich. Die Phasen bauen aufeinander auf: die nächste kann erst folgen, wenn die vorherige die Voraussetzungen geschaffen hat.

1. Eingangsphase

Gemeinsames Vorbereiten der Schattenprojektion (Tuch, Licht), Kontakt anbahnen zwischen Darsteller und Therapeut oder Darsteller und den anderen. Übungen zum Gruppenzusammenhang. Erster Kontakt mit dem projizierten Schatten. Aufnahme des Konflikts. Phase der Anamnese und erste Annahme über die Diagnoserichtung. In diese Phase gehören auch die meisten Übungsangebote, die das notwendige «Anwärmen» für die nachfolgenden Phasen ermöglichen.

Das anfängliche Experimentieren mit dem Schatten und die Wirkungen der projizierten Schatten werden im Hier und Jetzt des Erlebnisses zur Prägnanz geführt. Aus der aktuellen Geschichte des Protagonisten sollen jetzt auch die wechselseitigen Zusammenhänge seiner Lebenssituation einander angenähert werden, und dieses führt zur nächsten Stufe.

2. Aktionsphase

In der Aktionsphase wird durch spielerisches Tun, Körperbewegung – auch unter der Wirkung von Musik -, stimmlichen Ausdruck, z. B. bei Gedicht- und Prosatexten, die Schattenprojektion zur Mehrdimensionalität erhoben. Folgende Techniken erhöhen dabei die Phantasietätigkeit, Ausdrucksfähigkeit und Kreativität:

  • Hilfsschatten (analog dem «Hilfs-Ich» im Psychodrama)
  • Schattenchor (analog dem Chor im antiken Drama)
  • Schattenpanorama (analog dem Lebenspanorama nach Petzold)
  • Schattendrama (dramatische Auseinandersetzung zwischen den Personen in Wort und Bewegung)
  • Schattenmonolog
  • orgiastischer Schattentanz
  • Schattenekstase
  • Schatteninferno (man spielt das Geschehen im Jenseits, in der Unterwelt, wie es in den antiken Mythen vorkommt, und dort versuchen die Schatten alles, was sie belastet und alle unerfüllten Wünsche mit allen Möglichkeiten des Ausdrucks darzustellen, so daß sie symbolisch wieder lebendig werden können.)
  • Schattenmeditation (länger andauernde konzentrative Betrachtung des eigenen Schattens in einer entspannten vorbereiteten Haltung)

Der dabei intensivierte Erlebensprozeß entwickelt sich zum reinigenden Ereignis und oft auch zum Evidenzerlebnis, da der Mensch sich in seiner Gesamtheit als leib-seelisches-geistiges Subjekt erfahren kann. Durch bestimmte Techniken helfen wir, den Dialog mit dem eigenen Schatten aufzunehmen, und reduzieren die Entfremdung zwischen den gespaltenen Anteilen der Person.

3. Integrationsphase

In dieser Phase kann man durch Rückschau, Feed-back, Reflexion und Aufhellung des projektiven Prozesses Einsicht aus der erzielten Transparenz der Erlebnisse gewinnen.

4. Neuorientierung

Aufgrund dieser gewonnenen Einsicht und aufgrund des Verständnisses für die abgelaufenen Prozesse probieren wir einen neuen Umgang mit dem Schatten aus, um unsere Fähigkeiten zu verändern bzw. zu erweitern.

Kapitel 4:

Erfahrungen aus meiner therapeutischen Arbeit

(= ehemaliges Kapitel 12 aus dem Buch: Canacakis, Jorgos / Haehnel, Gerd / Söll, Florian: Wir spielen mit unseren Schatten. Vorschläge für Familie, Freizeit, Schule und Therapie. Reinbek bei Hamburg 1986, Rowohlt TB 7960; alle Rechte bei Jorgos Canacakis)

Die Möglichkeiten, mit dem Medium Schatten in Therapie, Rehabilitation, «Wachstumsgruppen», aber auch in der Prävention zu arbeiten, sind beinahe unbegrenzt. Sein besonderer Charakter macht ihn in Fällen wie Sterben, Tod, Trauer, bei unheilbaren Krankheiten sowie auch bei negativer Projektion geradezu unersetzlich.

In dem Wissen, daß therapeutische Prozesse schwer zu beschreiben sind, da wichtige Dinge nonverbal verlaufen, möchte ich ein paar kurze Arbeitserfahrungen anführen.

Eine chronisch trauernde Frau

Gisela * ist Witwe und 63 Jahre alt. Ihr Mann ist im Krieg gefallen. Seine Leiche hat man nicht gefunden. Sicher ist, daß seine Einheit damals aufgerieben wurde. Es war in Stalingrad. Der Brief, den Gisela von der Armee erhalten hatte, hatte ihr keine Klarheit über diesen Verlust gebracht. Sie hoffte immer. «Verschollen», so meinte sie, bedeutete, er könne noch zurückkommen. Jetzt wartet sie schon über 40 Jahre.

Und diese 40 Jahre sind eine Zeit voller Verzweiflung, Resignation, Verlassenheitsgefühlen, Ungeduld, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit gewesen. Das Schlimmste ist die innere und äußere Einsamkeit und die Isolation. Während des Wartens hat sie auch das Trauern verpaßt.

Was sie stört, ist, daß sie keine Nacht durchschlafen kann. Sie hat Ängste, ist sehr nervös, hat Körperschmerzen und schluckt tagtäglich viele Tabletten, erzählt sie der Gruppe.

Sie ist zum Trauerseminar gekommen, weil ihre Nachbarin, mit der sie oft im Flur geredet und gelegentlich in die Kirche gegangen war, plötzlich, ohne vorher krank gewesen zu sein, verstorben war. Und dadurch war Gisela ganz durcheinander gekommen.

Das ist inzwischen sechs Monate her, in denen sie dachte, alles werde sich wieder zum Besseren entwickeln. Aber es geht ihr heute körperlich und seelisch schlechter als je. Sie ist verwundert und kann es nicht verstehen, daß sie plötzlich in Tränen ausbricht, in der Straßenbahn, bei Freunden, auf der Straße, im Kaufhaus, obwohl sie keine besondere Bindung zu dieser Nachbarin hatte. Gisela wirkt unsicher und kann die Welt nicht mehr verstehen. Ihre Erwartung an das Trauerseminar ist, «dieses verdammte Weinen endlich mal abzudrehen».

Auf meine Frage hin, ob sie dieses Weinen von Fritz – so hieß ihr verschollener Mann – her kennt, schaut sie mich verwundert an und antwortet: «Der kann nicht tot sein und mich alleine lassen.»

Aus ihrer Erzählung erfahren wir in der Trauergruppe, daß sie in ihrer Wohnung seit 40 Jahren nichts geändert hat, weder im Schrank noch im Ehebett. Nachts, wenn sie sich schlafen legt, legt sie ihre Hand auf das Kissen neben ihrem Betteil und sagt zum Fritz: «Gute Nacht, schlaf gut.» Ähnliche Gespräche führt sie mit ihm ab und zu auch beim Abendessen, wenn sie noch einen zweiten Teller auf den Tisch stellt. «Laß es dir gut schmecken. Guten Appetit.»

Zum Friedhof ist sie nie gegangen, auch nicht, wenn im November die Trauertage sind. «Was soll ich da, er ist ja nicht begraben. Er lebt vielleicht noch, und er wird irgendwann kommen.»

Nachdem andere ihre Trauergeschichte erzählt haben, erwähnt sie den Verlust ihrer Nachbarin, betont aber, daß dieser Verlust ihr nicht viel ausmache. Den Verlust ihres Mannes vor 40 Jahren überspringt sie mit dem Satz: «Mein Mann ist vom Krieg nicht zurückgekommen.» Als ihr Ziel sieht sie, zu entdecken und zu begreifen, «warum ich weine, obwohl ich für den Tod meiner Nachbarin nichts empfinden kann.»

Das erste Wochenende des Seminars bleibt sie «Zuschauerin» beim Trauergeschehen der anderen. Einerseits kann sie verstehen und ohne Tränen für die anderen Witwen mitempfinden, andererseits meldet sie Zweifel an, ob ihre sonderbare Trauer hier angegangen werden kann.

Die Geschichte nimmt einen neuen Verlauf, als am nachfolgenden Wochenende die Gruppe sich entschließt, Spiele mit dem menschlichen Schatten zu versuchen. Gisela will zunächst selber nicht am Spiel teilnehmen, sondern Zuschauerin bleiben. Dann kommt die Übung «Schattenassoziationen», bei der jeder versucht, Gedanken, Gefühle und Phantasien durch Bewegung auszudrücken, welche auf eine Leinwand in der Mitte des Raumes projiziert wird.

Als eine Teilnehmerin mit Körper und Stimme den Schatten eines Soldaten im Marschschritt auf die Leinwand bringt und dieser den Raum einige Male durchmißt, wird Gisela unruhig und schaut mit ängstlichen Gefühlen zur Leinwand. Der Schatten wechselt seine Form und seine Konturen, sobald die Teilnehmerin, die den Soldaten spielt, sich der Lichtquelle nähert oder von ihr entfernt. Einmal wird er mächtig und riesengroß, um wenig später gekrümmt und zusammengebrochen auszusehen. Für Gisela wird es unerträglich, als ein Teilnehmer das Knattern eines Maschinengewehrs imitiert und der marschierende Soldat auf einmal wie vom Blitz getroffen auf den Boden fällt. Gisela schreit laut auf: «Nein, nein, das kann nicht sein. Es ist nicht wahr.» Und sie hält ihre Hände vor Augen und Mund, um das Sehen und Schreien zu unterbinden.

An dieser Stelle kommt Gisela an ihre Trauer heran und realisiert den 40 Jahre zurückliegenden Tod ihres Mannes. Sie erklärt sich bereit, sich durch «Schattenarbeit» an die unerledigte Trauer heranzuwagen. Ich versuche, sie durch einige der vorgestellten «Schattentechniken» an ihren Trauerschmerz heranzuführen.

Durch diese und andere Trauerinterventionen […] wird es Gisela möglich, sich mit der langverschleppten Trauer auseinanderzusetzen. Sie kann dann ihrem toten Mann von ihrer Enttäuschung erzählen, daß er sie so unendlich viele Jahre hat warten lassen, auch von ihrer Wut und ihren Schuldgefühlen. Damit realisiert sie, daß er tot ist und nie mehr zurückkommen kann. Diese Erfahrung ermöglicht ihr, einen Zugang zum Trauerschmerz zu finden, und dieses bedeutet, daß ihre versteinerte Trauer, die sie krank macht, endlich zum Fließen kommt. Dieses Fließen bedeutet aber auch Lebensenergie, um Entscheidungen für eine Neuorientierung zu treffen. Sie kann dann vor den anderen von ihrem Mann Abschied nehmen.

Helgas Todesängste

Die Projektionsleinwand aus weißem Stoff ist in der Mitte des Raumes aufgespannt. Der Raum ist durch das weiße Tuch in zwei Hälften geteilt: Diesseits und Jenseits. Helga, 41, Bankangestellte, ist Teilnehmerin einer Gruppentherapie, die einmal wöchentlich über zwei Monate laufen wird. Seitdem einer ihrer älteren Kollegen, der ihr im Büro gegenübersaß, durch einen Herzinfarkt vor ihren Augen tot umgefallen ist, lebt sie in dauernder Todesangst. Nachts erwacht sie schweißgebadet und hat Angst, sterben zu müssen. Es entwickelt sich ein Dialog zwischen Helga und einem «Hilfsschatten», der als der Tod auftritt.

Anfangs ist das Gesicht des Todes «hinter Nebelschwaden», doch allmählich erkennt sie ein hämisches Lächeln. Im Rollentausch und in der Identifikation mit dem Tod sagt sie: «Ich bin da, um dir Angst zu machen. Ich werde dich mitnehmen.» Als Helga wieder sich selbst spielt und angstvoll, aber auch fordernd den Tod fragt, was er von ihr möchte, erhält sie ein hämisches Lachen als Antwort. Ich frage sie, ob die erkennbaren Züge im Gesicht des Todes sie an jemanden erinnern. Langes Schweigen. Dann macht sie plötzlich ein erstauntes Gesicht und sagt leise: «Ja, das ist Großvaters Gesicht.»

«Damals», so erzählt sie weiter, «als der Opa starb, war ich sehr jung, so vier bis fünf Jahre. Alle waren traurig, und meiner Mutter ging es sehr schlecht. Sie mußte für ein paar Tage in der Klinik bleiben, war danach immer traurig und weinte viel, aber versteckt. Sie hatte plötzlich wenig Zeit für mich, und ich konnte sehr wenig mit ihr spielen. Als sie mir dann Monate später drohte: <Wenn du nicht brav bist, dann wird dich der Opa holen>, war ich sehr lange sehr geängstigt.»

Wir beendeten diese Arbeit mit einer Ubung, die «das Schatteninferno» heißt: Die ganze Gruppe durfte dann unter den Klängen einer ekstasischen Musik «tanzen», diesseits und jenseits der Leinwand. Wenn man sich bereit wähnte, ging man über einen mit Kissen vorbereiteten Übergang zur anderen Seite und setzte die Schattenspiele «drüben» fort. Dabei erklangen Töne und Schreie, die an ein Inferno erinnerten.

Während einiger Sitzungen in den folgenden Monaten lernte Helga in spielerischem Verhalten, mit der Angst vor Tod und Sterben weniger angespannt umzugehen.

Wann ist «Schattenarbeit» angezeigt?

Die therapeutische Schattenarbeit läßt eine Vielfalt von Indikationen zu: in Einzel- und Gruppentherapie bei Menschen mit konflikthaftem und neurotischem Verhalten, mit psychosomatischen Erkrankungen, narzißtischen Persönlichkeitsstörungen und bei Personen mit «Borderline »-Strukturen.

Bei psychotischen Erkrankungen rate ich ab, jedenfalls wenn eine aktuelle Problematik vorliegt. Ist dies nicht der Fall, kann man auch psychotischen Patienten die Schattenarbeit zugute kommen lassen, wenn der Therapeut für einen strukturierten Prozeßablauf sorgt, Stütze und Vertrauen bereitstellt und in jedem Moment der eigenen Wahrnehmung und der eigenen Kreativität vertraut, um bei undurchsichtigem Verlauf den Prozeß umwandeln zu können.

Bei Suizidgefährdeten ist Vorsicht angebracht.

In der Bearbeitung von Todesängsten und von Trauerproblemen wie übrigens auch für therapeutische Interventionen bei der Krebsarbeit erscheint mir diese Methode unentbehrlich. In der Familientherapie und der Kindertherapie eröffnet die Arbeit am Schatten neue Möglichkeiten und bereichert und erweitert die jeweiligen Ansätze.

Ohne weiteres einsichtig dürfte auch sein, daß die Einbeziehung der Schattenarbeit für alle nichtklinischen Bereiche von großem Vorteil ist, z. B. bei Drogenabhängigen, im Strafvollzug, in Selbsterfahrungsgruppen und ganz besonders effektiv in Verbindung mit spielerischen Elementen im ganzen Bereich der Erziehung und Pädagogik.

Ausblick

Mit diesem Aufsatz habe ich den Versuch unternommen, auf die Bedeutung des Mediums «Schatten» im therapeutischen Bereich aufmerksam zu machen und ihm zur Popularität zu verhelfen, und zwar aus der Uberzeugung, daß die Möglichkeiten, die im «Schatten» stecken, entdeckt werden müssen. Ich habe mich da auf ein faszinierendes Terrain gewagt, was mir oft auch Angst bereitet hat. Dennoch war es für mich bisher eine schöne kreative Erfahrung, die mich voll befriedigte. Da es ein erster Anfang war, habe ich, um den Fluß der spontanen Gedanken nicht zu blockieren, auf Perfektion verzichtet.

Die ersten Schritte sind gemacht. Was als nächstes notwendig ist, sind viele Erfahrungen mit dem Medium, die dann in methodisch ausgereifte Studien münden könnten.