Erläuterung des Keyboardkonzeptes der Klassenmusiker
Einleitung
Zum Keyboard im Klassenverband äußerte sich der französische Pädagoge Paul Le Bohec nach einer unserer Fortbildungen:
„Aber als ich die Keyboards entdeckte, hatte ich nur noch einen Gedanken. Ich hatte endlich die Möglichkeit, die Natürliche Methode beim Klavier realisiert zu sehen, von der ich seit 30 Jahren träume, und die, das ist klar, nicht realisiert werden konnte, weil es unmöglich war, jedem Kind ein Klavier zu geben. Aber das ließ sich mit diesen Instrumenten machen. Und außerdem, dank der Kopfhörer, konnte jeder für sich spielen, ohne die anderen zu stören. Wie sollte ich vor dieser großartigen Perspektive, die sich anbot, bewegungslos bleiben?“
Für unser Konzept “Die Klassenmusiker” haben wir einen eigenen Keyboardlehrgang für etwa zehn Schulstunden für Schüler/innen der Sekundarstufe 1 entwickelt, die keinerlei Vorkenntnisse haben. Der Clou dabei: Schon nach wenigen Minuten kann man mit der Klasse das erste Stück spielen – vorausgesetzt man verfügt über genügend Keyboards, am besten in einem eigenen Keyboardraum. Unser Keyboardlehrgang, der sehr kleinschrittig vorgeht, damit die Kinder schnell Erfolgserlebnisse haben, ist folgendermaßen aufgebaut:
- Zunächst wird, völlig ohne Noten, Zahlen, Farbmarkierungen oder was auch immer, das Spiel auf den schwarzen Tasten eingeführt. Dabei werden in der ersten Stunde fünf kleine Songs gespielt.
- Man kann diese Songs als Lehrer/in auf der Gitarre oder dem Klavier begleiten, oder man benutzt die Begleit-CD, idealerweise mit Fernbedienung: Dies hat den Riesenvorteil, dass man während des Spieles im Raum umhergehen und Hilfestellungen geben kann.
- Rhythmische Übungen sind Schwerpunkte der zweiten Stunde, wo Song 6-8 gespielt werden.
- Eine Tonraumerweiterung auf den schwarzen Tasten erfolgt in der dritten Stunde mit Song 9-11 (Blues, Samba).
- Nun erst beginnt das Spiel auf den weißen Tasten anhand der Songs 12-17. Wir beginnen mit “Kleiner-Finger-Song”, spielen “Take fünf” und enden mit der “Eurovisionsmelodie”.
- Nach diesem Lehrgang, der nicht unbedingt komplett absolviert werden muss, sollte das Zusammenspiel im Klassenverband mit den anderen Instrumenten der Klassenmusiker (Schlagzeug, E-Bass, Gitarre, Percussion-Instrumente) erfolgen: Es entstehen die Einsteiger-Songs.
Es folgt nun eine Einführung in das Keyboardspiel für absolute Keyboard Anfänger. Diese gehört nicht mehr zum aktuellen Konzept der “Klassenmusiker”, sondern zeigt einige Schritte auf dem Weg zum heutigen Konzept. Sie ermöglicht also einen Blick in die Vergangenheit unserer Klassenmusiker-Werkstatt, von den 15 Jahren Entwicklungszeit war damals etwa die Hälfte vergangen:
Gerd Haehnel
Die Ausbildung zum Klassenmusiker (Teil 1)
Eine Praxisanleitung im Fernstudium: Der Kanon nach Pachelbel
Ich hätte auch die folgende Überschrift wählen können:
Wie jede Lehrerin und jeder Lehrer
– auch ohne besondere Vorkenntnisse –
Wege finden kann,
um im fachfremden Musikunterricht
mit den SchülerInnen zu musizieren:
von Klasse 3/4 bis Klasse 9/10 !
Ich möchte über die von mir und meinem Kollegen Klaus Lotz konzipierte Ausbildung zum Klassenmusiker, und natürlich auch zur Klassenmusikerin berichten, denn darum geht es ja u.a.: dass nicht nur die Jungen, sondern auch alle Mädchen Schlagzeug lernen, und dass nicht nur die Mädchen, sondern auch alle Jungen Freude am Singen bekommen.
In den ersten beiden Teilen wird es zunächst ganz praktisch zugehen, während ich später unsere Konzeption etwas mehr aus theoretischer Sicht vorstellen möchte. Dann werden mögliche Ziele und die Auswertung entsprechender empirischer Untersuchungen zu solchen Unterrichtsprojekten folgen.
Fragen wir zunächst einmal den bekannten Geigenvirtuosen Yehudi Menuhin, der für sein Anliegen, allen SchülerInnen auch in der staatlichen Regelschule das Musizieren zu ermöglichen, mit einer Vision wirbt:
Damit „wird endlich die Musik als Teil der allgemeinen Bildung und als Beitrag zur Rettung des Menschen anerkannt.“
In unseren Fortbildungen erlebe ich seit Jahren, wie Menschen zum Musizieren (zurück-) finden, die sich für gänzlich unmusikalisch hielten. (Ich muss meinen Trommellehrer Aja Addy mal fragen, ob es das Wort „unmusikalisch“ im Afrikanischen überhaupt gibt.)
Ob eine solche Erfahrung auch auf schriftlichem Wege vermittelbar ist?
Ich möchte wenigstens einen entsprechenden Versuch unternehmen und noch einmal sehr detailliert beschreiben, wie man zunächst den „Kanon“ von Johann Pachelbel (1653-1706) und die „Eurovisionsmelodie“, auch ohne musikalische Kenntnisse, selber spielen kann. Daraus mag sich dann soviel Sicherheit entwickeln, dass man sich zutraut, kleine Musizierprojekte in der Schule zu starten. Zunächst aber bitte:
Weg mit dem Noten-Frust !!!
Wenn ich in einem 5. Schuljahr neu mit dem Musikunterricht beginne und nach den Wünschen der Kinder frage, schallt es mir ganz oft entgegen: „Bitte keine Noten!“
Auch wenn ich Gespräche über Musik führe, höre ich häufig „Eigentlich mag ich Musik gerne, aber ich kann keine Noten und bin gänzlich unmusikalisch.“ Würde man mit der gleichen Selbstverständlichkeit sagen: „Eigentlich lasse ich mir gerne Geschichten vorlesen, aber ich kann keine Buchstaben, und deshalb kann ich auch keine Geschichten erzählen.“
Keine Notenkenntnisse = unmusikalisch?
Diese Ungleichung, die immerhin Grundlage tausender Musikstunden war und ist, entspricht in ihrem Aussagewert der Erkenntnis, dass die Erde eine Scheibe ist. Dazu muss man wissen, dass die Verbindung des Musizierens mit der Notenlehre vor allem ein Problem unseres Kulturkreises ist: Es gibt ganz phantastische Musiker/innen, z.B. im Jazz, die keinerlei Noten können. Und: Die ganze türkische und indische Musik ist so kompliziert, dass sie sich mit unserem Notensystem überhaupt nicht aufschreiben lässt.
Was kann man eigentlich einer Note an Informationen entnehmen? Nun, vor allem dreierlei:
- Wie tief oder hoch ist ein Ton?
- Wie lange dauert ein Ton?
- Mehr nicht!
Es geht doch um Kommunikation!
Das erste Stück, den „Kanon“, werde ich so beschreiben, dass er ohne Noten spielbar ist. Damit bleibt der Blick für das frei, was für mich das Wesentliche beim Musizieren ist: das Kommunizieren miteinander! Was heißt das? Ich möchte dazu noch einmal Paul LeBohec bemühen, der seine Erfahrungen mit einer Aufführung des „Kanon“ von Pachelbel, bei der die meisten Mitspieler/innen keinerlei Notenkenntnisse hatten, so ausgedrückt hat (aus FuV 51/1990, S. 27):
„Ich habe wirklich erfahren, was ein Orchester ist: die Organisation der Teile, das Gleichgewicht der Klänge, die Berücksichtigung des Tempos, der Platz eines jeden, die Verantwortung gegenüber dem Ganzen, die Notwendigkeit zu üben, sich zu vervollständigen, um nicht der Gruppe zu schaden, aber auch die Freude zu einer Familie zu gehören, dort einen Platz zu haben… Aber auch das Vergnügen, im Inneren den Geist einer Epoche wiederzuerleben, sich eingeführt zu fühlen in diese Zeit. … Und welches Glück zu diesem schönen Ensemble seinen kleinen Teil mit Vibraphon beizutragen. Und welche Freude, zu diesem Orchester von 15 Personen zu gehören, das ganz augenscheinlich dem Publikum eine wirkliche Freude bereitet hatte.“
Vielleicht machst du ähnliche Erfahrungen. Wenn du dann aus einer solchen Erfahrung heraus beginnst, ein Instrument zu lernen, geschieht das Notenlernen quasi nebenbei: Vielleicht lernst du pro Woche zwei neue Töne auf deinem Instrument, also auch nur zwei neue Noten. Und plötzlich werden Noten sinnvoll, weil sie nämlich eine dienende Funktion bekommen.
Für diejenigen, die bisher den musiktheoretischen Anspruch vermissen: So lernt man die Musiktheorie wirklich, nämlich durch das eigene Tun, und nicht durch das Abschreiben von der Tafel! Und so haben sicher doch auch die meisten Musiklehrer/innen Noten gelernt: im Instrumentalunterricht. An unserer Schule beherrschen alle Kinder des 5. Jahrgangs nach wenigen Wochen einen einfachen Rockrhythmus am Schlagzeug, denen brauche ich nichts mehr über den Unterschied von Viertel und Halben zu erzählen, den können sie ja sogar spielen!
Dein privates Kammerensemble
So, jetzt geht es aber los. Zum Musizieren des ersten Stückes benötigst du:
- das oben abgedruckte Arrangement zum „Kanon“; ich habe es im Vergleich zu dem in der letzten FuV noch einmal vereinfacht; auch die Noten sind verkleinert, weil sie zunächst nicht gebraucht werden.
- ein Klavier bzw. ein Keyboard mit einer nicht zu kleinen Tastatur [über der die Notennamen geschrieben stehen – falls dies fehlt, schaue in der “”Kartei Endlich Noten lernen nach – oder
- drei Orff-Stabspiele (am besten Xylophone)
- zwei nette Mitspieler/innen, also dein ganz privates Kammerensemble
- eine gemütliche Atmosphäre, […]
- ein bisschen Geduld mit dir
- und wenn du mit den beschriebenen Anleitungen alleine nicht zurecht kommst: einen musikalischen Experten, von dem du dir helfen lässt. Die Schriftsprache hat in Bezug auf das Musizieren wirklich ihre Grenzen. […]
Die Notennamen [wiederholen sich] jeweils ab der achten weißen Taste, also nach einer Oktave […[. Die Reihenfolge entspricht dabei unserem Alphabet, mit einer Ausnahme: Anstatt des b finden wir ein h, was wahrscheinlich seine Ursache im Abschreibfehler eines mittelalterlichen Mönches hat. (Im englischsprachigen Raum gibt es dieses Problem übrigens nicht.) Auf der Klaviertastatur gibt es also mehrere Töne „c“, die man zur Unterscheidung als c1, c2 usw. bezeichnet. Zur Orientierung: Das Schlüsselloch des Klavieres befindet sich etwa in Höhe des c1, bei den Keyboards ist das unterschiedlich (Schau in der Bedienungsanleitung nach!)
[Nun finde mit Hilfe der Notennamen über der Keyboardtastatur oder der Notenkartei heraus], welche Taste du für den jeweiligen Notennamen drücken musst, wobei ich die Notennamen im obigen Arrangement schon über die jeweiligen Noten geschrieben habe. Du kannst dir das Auffinden während des Spieles erleichtern, wenn du die benötigten Tasten mit wieder ablösbaren Klebeetiketten beschriftest, vielleicht sogar je nach Stimme in unterschiedlichen Farben.
Wenn du mit Orff-Stabspielen arbeitest, findest du die Notennamen auf den Klangstäben. Da diese zum Teil einen geringeren Tonumfang haben, kannst du das c3 auch als c2 oder c1 spielen usw. Ein Tipp: Nimm doch einfach die Klangstäbe heraus, die du für die jeweilige Stimme nicht benötigst. […]
Der leichte Kanon
Zu den Melodiestimmen 1 und 2
Die folgende Beschreibung gilt für die Klaviertastatur, und du musst sie ggf. sinngemäß auf das Xylophon übertragen: Unter der Notenreihe befinden sich Zahlen, die den Fingersatz für die rechte Hand angeben: 1 = Daumen, 2 = Zeigefinger usw. Suche dir jetzt für die erste Melodie auf der Klaviertastatur das f2 und lege den Daumen auf diese Taste, weil ja unter dem f2 auch eine 1 steht. Nun lege die anderen Finger der Reihe nach auf die daneben befindlichen weißen Tasten, also den Zeigefinger auf g2 usw. Das ist deine Grundstellung, die du, nur für die Melodie 1, beibehälst. Jetzt spiele die Töne gleichmäßig nacheinander, indem du den Zahlen und nicht den Noten folgst. Wenn du an den Doppelpunkt (= Wiederholungszeichen) gelangst, fängst du noch einmal von vorne an und endest erst dann in Takt 5. Du hast sicher gemerkt: Die erste Stimme ist so geschrieben, dass du sie einfach nur der Reihe nach, einen Finger nach dem anderen, von links nach rechts und wieder zurück spielen musst. Du kannst dich dadurch ganz darauf konzentrieren, die Töne in deinem Tempo, aber möglichst gleichmäßig zu spielen.
Die 2. Melodie erfordert eine andere Grundstellung, nämlich den Daumen auf a1. Sie ist auch ein wenig schwieriger, weil in Takt 3 ein kleiner Sprung ist.
Nun folgt das erste Zusammenspiel mit deinen MitspielerInnen, ganz langsam und mit viel Ruhe! Versucht, miteinander zu kommunizieren, indem Ihr ein gemeinsames Tempo findet – das ist gar nicht so einfach! Wenn das klappt, genießt die Harmonie der Klänge, die ihr miteinander erzeugt und freut Euch darüber, wie viel schöner Euer Zusammenspiel als der Musikcomputersound von der Kassette klingt!
Zum leichten Bass
Jetzt wird es ein wenig schwieriger, weil du mit deiner Hand ein bisschen springen musst. Am besten markierst du dir die Anfangstasten jedes Taktes auf der Klaviertastatur, also c1, a und f. Nun legst du den kleinen Finger auf c1, spielst wie gewohnt Finger 5 und 2, springst mit dem kleinen Finger („5“) auf a usw ., und im 4. Takt mit dem Daumen auf f, was gleichzeitig wieder die Grundstellung für den 1. Takt ist. Beim Bass wechseln also die Grundstellungen nach jedem Takt!
Das klingt vielleicht kompliziert, ist aber relativ einfach zu spielen, weil die Handbewegung in den ersten drei Takten ähnlich ist. Lass dir Zeit, um in diesen Rhythmus hineinzukommen, bevor Ihr mit Eurem Zusammenspiel weitermacht: Dabei ist es dann wichtig, die drei übereinander stehenden Töne von Melodie 1, Melodie 2 und leichtem Bass zum gleichen Zeitpunkt zu spielen. Herzlichen Glückwunsch, damit ist eine erste, ganz einfache Fassung vom „Kanon“ fertig!
Zum mittleren Bass
Die „Hin- und Herspringerei“ funktioniert hier im Prinzip genauso, nur musst du doppelt so viele Töne, und damit auch doppelt so schnell spielen, zu jedem Ton der Melodie 1 also zwei Töne des mittleren Basses. […] Klappt das? Dann war das wieder ein ganz entscheidender Fortschritt: Ihr habt jetzt zwei unterschiedliche Rhythmen zusammengespielt, und deswegen klingt das Stück natürlich viel interessanter. […]
Gestatten Sie noch eine Frage, Herr Menuhin …
Immer wieder muss ich darüber nachdenken: „Wenn jedes Kind musiziert, ist das ein Beitrag zur Rettung des Menschen!“ – Das hat Yehudi Menuhin sinngemäß gesagt! Sind das die Allmachtsphantasien eines 76-jährigen Wunderknaben, dem im Alter seine Berühmtheit zu Kopfe gestiegen ist? Oder würde mein afrikanischer Trommellehrer Aja Addy das genauso sehen, der immer so freundlich gelacht hat, wenn ich mich verspielt habe, und dessen zweijähriger Sohn uns den komplizierten Rhythmus auf der time-keeping -bell beigebracht hat? Wieso komme ich mit meiner schwierigen Klasse so gut klar, seit wir zusammen musizieren? Und was macht eigentlich die Hörwerke von Joachim Ernst Berendt, verlegt bei 2001, so überaus erfolgreich, der u.a. auch zum Musizieren, etwa zum Obertonsingen, auffordert?
Jedes Kind musiziert – also, alle Kinder musizieren miteinander, spielen Stücke, die sie sich vielleicht selber ausgewählt haben, wirklich alle Kinder, nicht nur die an Waldorfschulen, und nicht nur die an den Grundschulen mit musikbetonten Zügen in Berlin, und nicht nur die an den Gesamtschulen mit Schulversuchen, und nicht nur die in der Musiktherapie – sondern einfach alle Kinder! Und die LehrerInnen? Die auch alle?
Herr Menuhin, gestatten Sie mir eine Frage zum Schluss: Wie stellen Sie sich eine Welt vor, in der jedes Kind musiziert, nicht zwanghaft, sondern mit der heiteren Gelassenheit eines Aja Addy, dessen CD übrigens „Power and Patience“ heißt?
Herr Yehudi Menuhin, wie stellen Sie sich eigentlich eine solche Welt vor ?