1. Ein ideales Medium für die kirchliche Arbeit
Ob im Gottesdienst, im Schulgottesdienst, bei der Messdiener- oder Konfirmandenfreizeit – das Menschenschattenspiel stellt ein ideales Medium für die Arbeit in der Kirche dar. Hier eine Idee für ein Weihnachtsspiel aus unserem Schattenbuch (Dort ist auf S. 43 übrigens auch abgebildet, wie plötzlich ein Teufel erscheint…):
“Wir haben bei einem Weihnachtsspiel das geheimnisvolle Erscheinen eines Engels inszeniert. Die Hirten standen im gelben dämmrigen Licht, als plötzlich der gelbliche Schatten eines Engels erschien, während die Umgebung um ihn herum heller wurde. Der Engel hatte zuvor unbeweglich außerhalb des gelben Lichtkegels gestanden. Durch das Zuschalten einer seitlich aufgestellten Lampe sprang er nun plötzlich ins Bild und verschwand auf genauso rätselhalfte Art und Weise wieder, als die Seitenbeleuchtung abgeschaltet wurde.” (S. 42)
Übrigens, für das Schattentheater in der Kirche eignet sich eher die dunklere Jahreszeit, da dann durch die Kirchenfenster kein Tageslicht mehr nach innen fällt; wir haben zwar bei einem Workshop in Venedig mal alle Fenster einer kleineren Kirche mit schwarzer Folie verklebt, aber das würde ich glaube ich nicht noch einmal machen wollen…
Hier ausführliche Beschreibungen von zwei meiner Schattenspiele in der Kirche:
2. Kindergottesdienst zum Thema Schöpfung
Am 21.5 2005 fand in der Evangelischen Kirche Essen Werden ein oekomenischer Kindergottesdienst zum Thema “Schöpfung” statt, mit dem (u.a.) das 4. oekomenische Gemeindefest in Essen Werden eröffnet wurde.
Bestandteil des Gottesdienstes waren sechs Stationen in der Kirche, die nacheinander von den in Gruppen aufgeteilten etwa 100 Kindern absolviert wurden und den einzelnen Tagen der Schöpfungsgeschichte entsprachen. Die Stationen sollten es den Kindern ermöglichen, die Schöpfung sinnlich zu erfahren:
- Licht und Dunkelheit, Tag und Nacht: Schattenspiel-Station (die unten genauer beschrieben wird)
- Himmel und Erde: geführte Besteigung des Kirchturmes und Kirchendaches
- Pflanzen und Bäume: Aussähen von Sonnenblumen
- Sonne, Mond und Sterne: Basteln eines Bildes
- Tiere: Erraten von Tierstimmen (Dazu hatten wir uns eine CD zusammengestellt.)
- Mensch und Ausruhen: Wohlfühlstation mit kleiner Entspannungsmassage
Schattenspiel-Station
Herzlichen Dank für die Fotos an Hans-Josef Bury aus Essen Werden)
Das Problem war zunächst, dass der Kindergottesdienst morgens stattfand, die Kirche aber nicht zu verdunkeln war. So entstand die Idee, den etwas dunkleren Kirchenraum unter der Orgelempore zu nutzen, der allerdings nur eine geringe Tiefe hat. Von daher musste ein Overheadprojektor im Orgelaufgang positioniert werden, wie man links auf dem Bild sieht.
Um Farbschatten erzeugen zu können, wurde ein zweiter Projektor auf der anderen Seite der Leinwand im Bereich der Kirchenbänke positioniert. Wie man an der abgeklebten Stromzuleitung im unteren Bildbereich sehen kann, war mir ein sicherer Aufbau der Station angesichts von hundert Kindern, die die Station im Zeitraum von etwa einer Stunde besuchen würden, besonders wichtig.
Zunächst absolvierte jede Gruppe einen Rundlauf, bei dem man seinen Schatten begrüßte und das Schattenspiel kennenlernte: zunächst als Spieler, auf der anderen Seite der Leinwand als Zuschauer, dann wieder als Spieler usw.
3. Auge um Auge, Zahn um Zahn
Als wir im Grundkurs Deutsch, Jg. 11, im Rahmen des Themas motivverwandte Parabeln “Das Gleichnis vom Sämann” aus dem Lukas-Evangelium besprachen, kam es zu einer lebhaften und kritischen Diskussion über Kirche und Religion in der heutigen Zeit, in deren Verlauf vor allem das Bibel-Zitat “Auge um Auge, Zahn um Zahn” als sehr negativ, weil kriegerisch empfunden wurde.
Dass dieses Zitat in der Öffentlichkeit allerdings häufig missverstanden wird, erläuterten die Pfarrer Maret und Martin Schmerkotte dem Vorbereitungsteam des Anders Werden Gottesdienstes der Evangelischen Kirche Essen Werden.
Wenn Sie, ebenso wie die Schüler/innen aus dem oben erwähnten Kurs, daran interessiert sind, wieso dieses “Motto” aus dem Alten Testament eigentlich im Sinne der Schadensbegrenzung gemeint ist und wie es vom Neuen Testament verstanden wird, dann nehmen Sie sich doch einen Augenblick Zeit und Muße und lesen in der Predigt von Martin Schmerkotte (s.u.).
Zum Anders Werden Gottesdienst “Auge um Auge, Zahn um Zahn” wurden die kleinen und großen Gottesdienstbesucher zunächst mit Zähnen und Augen aus Weingummi – so etwas gibt es wirklich – begrüßt, erlebten dann vor dem Gottesdienst Ausschnitte aus einem “Dick und Doof”-Film voller Hauen und Stechen, konnten in einem Interview mit einer Gefängnisseelsorgerin Realitäten erleben, die sonst so kaum wahr genommen werden, und hatten die Möglichkeit die schwungvollen musikalischen Darbietungen des Gospelchores zu erleben.
Erlebnisberichte
Odile Baumann (Redakteurin der Werdener Nachrichten) über die Proben zum Schattenspiel
– vielen Dank für die Abdruckerlaubnis –
Große Dinge werfen ihre Schatten voraus. Nur selten sind dabei farbige Schemen zu sehen. Um Neue anzulocken und alten Besuchern etwas durchgängig anderes zu bieten, entwickelte das „Anders Werden“-Team ein Schatten-Schauspiel seltener Art.
Gewinnen konnte das Team dafür einen Werdener, der die Kunst dieses Theaters als „Menschenschattenspiel“ vervollkommnet hat und sich der Laientruppe mitsamt professionellem Equipment zur Verfügung stellte.
Am kommenden Sonntagabend, dem 23. Januar, werden kurze Schauspielszenen das Thema „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ illustrieren witzig, griffig und mit Tiefgang. Die Laienspieler gabeln Begebenheiten mit den kleinen Aggressionen im Alltag auf: Unliebsame Nachbarn verhindern geräuschvoll das Miteinander, Dampf lassen Gehsteigbeleidigte ab und in irgendwas ist der liebe Nächste eben unerträglich besser.
Unter ihrem Regisseur bleiben die Akteure allerdings nicht am Leintuch kleben. Sie bewegen sich sowohl vor der Scherenschnittfläche, so dass Augen und Zähne zu sehen sind, als auch durch den Zuschauerraum. Klanglich wird das Spiel von einer professionellen Musik- und Geräuschkulisse umrahmt.
Was es mit dem oft als grimmig und kriegerisch empfundenen Satz der Bibel auf sich hat, steht im Mittelpunkt der Vertiefung, deren Breite die Kurzszenen anreißen. Das allerdings soll nur der Beginn einer durchaus gewünschten Diskussion sein.
Zum Abbau von Angriffsgelüsten soll das Singen sehr geeignet sein. Die Besucher werden darin an diesem Abend von Yoko Hayashi und dem Gospelchor unterstützt.
Für junge Besucher hat das Team eine kindgerechte Betreuung vorgesehen, auch hat es sich mit Wein und Brot gewappnet für gern gesehene Gespräche nach dem Ende des mit viel Engagement gestalteten „Anders Werden“-Gottesdienstes. Beginn ist 18 Uhr. (Werdener Nachrichten v. 21.1.2005, S. 7)
Aussagen eines Besuchers des Gottesdienstes
Der Anders Werden-Gottesdienst gestern abend war beeindruckend – in vielerlei Hinsicht. Zum einen hat mir natürlich (auch) die Technik und die Darstellungs- und Darbietungsweise gefallen und imponiert. Aber auch die Kombination, die Inhalte und Verknüpfungen der Themen, der weite Bogen „Zahn um Zahn“ vom Alten Testament über heutigen Parkplatzärger bis hin zur eindrucksvollen Schilderung der Gefängnisseelsorge – das war schon beeindruckend und gab und gibt noch viel Gesprächsstoff.
Ausführliche Dokumentation des Schattentheater-Stückes
Das Stück wurde zunächst vom Vorbereitungsteam, das derzeit aus etwa 25 Menschen besteht, inhaltlich konzipiert. Daraus bildete sich dann eine Schattenspielgruppe, die die gemeinsamen Ideen in Licht und Farbe umsetzte.
Zu den Grundlagen zur Aufführung
Die Grundstruktur des Stückes besteht aus einem ständigen Wechsel zwischen Schattenspielszenen mit der Lichtprojektion von hinten und von vorne auf die Leinwand sowie projizierten Zeitungsartikeln, die für das Publikum nicht sichtbare Umbauten ermöglichen. Außerdem werden verschiedene Spielebenen miteinander verknüpft: hinter und vor der Leinwand, Einbeziehung des Kirchenraumes.
Im hinteren Bühnenbereich befindet sich die Tür zum Kirchenzimmer, in dem das Licht während der Aufführung anbleibt. Bei geöffneter Tür wird von dort die Bühne erhellt, so dass genug Licht für die Umbaupausen vorhanden ist, während des Spiels wird die Tür einfach geschlossen. Hinter der Leinwand finden sich Spielpodeste auf einer rutschfesten Unterlage, die einerseits für die Zuschauer eine bessere Sicht ermöglichen, andererseits aber auch dadurch, dass sie hohl sind, laute Fußgeräusche usw. Die Verstärkung einiger Geräusche erfolgt über ein Funkmikrophon, die Musik wird von einer Musikanlage mit CD-Player eingespielt. Die Bereiche neben der Leinwand werden zum Publikum mit Stellwänden bzw. der weißen Rückseite einer Schullandkarte abgedeckt.
Als Leinwand steht eine professionelle Opera® Folie der Firma Gerriets (D 79224 Umkirch) in der Größe 2,80 mal 5 Meter zur Verfügung, die sehr klare Schattenabbildungen ermöglicht, aber nicht so durchscheinend ist, dass von der Zuschauerseite die Lichtquellen erkannt werden können. (Dabei ist es wichtig, auf eine gute Standfestigkeit des Gestells zu achten!) Da die Kirchenfenster natürlich nicht verdunkelt werden können, findet das Schattenspiel in der dunkleren Jahreszeit (23.1.2005) abends statt.
Tabelle zum Ablauf
Musik, Geräusche | Spielaktionen / Wer spielt? | Requisiten | Licht, Farbe, Effekte |
1a. Krach im Mietshaus (Zeit: 1:30)
Vorbemerkung: In dieser Szene sind kräftige Schattengesten wichtig, die verdeutlichen, wie feindlich sich die beiden Parteien gegenüber stehen. |
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anfänglich: Spieluhr – Melodie per Mikrofon, die schon etwa 5 Sekunden läuft, bevor OHP 1 angeht | Mieter 1 trinkt ein Bier und legt sich zur Ruhe. | Stab auf OHP 1 als Grenze zwischen linker und rechter Wohnung; Liegestuhl; Bierflasche mit Schnappverschluss | OHP 1: blaue Folie mit ausgeschnittenen Sternen und Mond; im Bereich von Mieterin 2 ist eine gelbe Folie hinterlegt |
Mieterin 2 kommt nach Hause und saugt Staub. Mieter 1 fängt schreiend an zu schimpfen. Mieterin 1 ruht sich auf einem Stuhl aus. | Staubsauger, Stuhl | ||
Mieter 1 holt seinen Bruder, Mieter 3, der 1. Elektrowerkzeug holt. | 1. Elektrowerkzeug | ||
Mieterin 2 reagiert darauf, indem sie wütend mit einem Hammer einen Nagel in die Wand schlägt. |
Hammer | ||
Mieter 3 benutzt 2. noch lauteres Elektrowerkzeug. | 2. Elektrowerkzeug | ||
Während das Werkzeug noch läuft, reagiert Mieterin 2 darauf, indem sie mit einem großen Hammer gegen die Wand schlägt und dazu laut mit den Füßen stapft. Alle schreien sich durch die Wand an. | großer Hammer aus Pappe | OHP 1 aus. | |
J. Pachelbel: Canon und Gigue in D-Dur | 1b. Zeitungsartikel (Zeit: 1 Minute) Auszug aus: Selbstschussanlagen im Nachbarschaftsstreit |
OHP 2 (von der Zuschauerseite) mit Zeitungsartikel an | |
2a. Marschierende Soldaten (Zeit: 2:00) | OHP 2 aus | ||
Marsch: Freiweg | Jeweils 2 Spieler treten von rechts und links auf und begegnen einander. Insgesamt gibt es 3 solcher Pärchen, die viermal, im Takt der Musik, aneinander vorbei marschieren. Bei ihren Begegnungen steigert sich ihre Aggressivität: – Sie marschieren ruhig aneinander vorbei. – Sie werden stutzig und stocken. – Sie stoßen sich an und drehen sich böse um. – Das erste Pärchen versucht sich gegenseitig um zuschmeißen, die anderen stürzen hinzu, die Szene endet in einem wilden Kampfgetümmel. |
Die Spieler haben verschiedene Hüte und Waffen, damit man sie voneinander unterscheiden kann. | OHP 1: Folie mit Panzer im Geländeeinsatz
OHP 1 aus |
J. Pachelbel (wie 1b.) | 2b. Zeitungsartikel (Zeit: 1 Minute) Auszug aus: Weltweit 42 Kriege in diesem Jahr (“Der Standard” v. 20.12.2004) |
OHP 2 an | |
3a. Prügelei am Parkplatz (Zeit: 1:30) | OHP 2 aus | ||
Einige Menschen stehen, sich unterhaltend, in einer Parklücke. | OHP 1: Folie mit Parklücke (Foto vom Parkdeck in Essen Werden) | ||
Autogeräusche | Eine Person läuft, als Auto “verkleidet” durch die Kirche, macht dabei Geräusche und stoppt dann mit “qietschenden” Reifen hinter der Leinwand vor der leeren Parklücke. (Im Vordergrund des Bildes sehen Sie das “Auto” vor der Leinwand.) |
Stirnlampe als Scheinwerfer, Lenkrad, Auto”umhang” | |
Hupgeräusch | “Das Auto” hupt die Gruppe an. | Hupe | |
Diese zerrt den Autofahrer aus dem Auto und verprügelt ihn. | OHP 1 aus | ||
J. Pachelbel (wie 1b.) | 3b. Zeitungsartikel (Zeit: 1 Minute): Parkplatzsuche nahm ein schmerzhaftes Ende (Vergl. Archiv der WAZ, 6.12.04) |
OHP 2 an | |
4a. Blumen im Vorgarten (Zeit: 2:07) | OHP 2 aus | ||
Grieg: In der Halle des Bergkönigs | Nachbarin 1 pflanzt hinter der Leinwand in ihrem Vorgarten Blumen. | verschiedene künstliche und natürliche Blumen mit großer, schattenwerfender Blüte; die Blumen werden in Holzbohlen mit Löchern gesteckt | OHP 1: Folie mit Vorgartenidylle und 2 Häusern, auf der Seite des einen Hause mit gelber Folie unterlegt |
Nachbarin 2 schaut vor der Leinwand neidisch zu, und pflanzt vor der Leinwand ebenfalls in ihrem Vorgarten Blumen. | |||
Nachbarin 1 pflanzt weitere Blumen und gießt diese. | Gießkanne mit Wasser, das hinter der Bühne in Behälter läuft | OHP 3: mit roter Folie, nur auf den gelb unterlegten Ausschnitt gerichtet | |
Nachbarin 2 sieht, dass die Pflanzen immer farbiger werden, ärgert sich und pflanzt ebenfalls weitere Blumen, die sie auch gießt. | Gießkanne ohne Wasser | ||
Nachbarin 1 pflanzt weitere Blumen und gießt diese. | Spot 1 (einzeln schaltbar) mit Farbe grün, nur auf Blumenbeet | ||
Nachbarin 2 sieht das, pflanzt eine weitere Blume und gießt diese ebenfalls. | |||
Nachbarin 1 pflanzt weitere Blumen und gießt diese. | Spot 2 (einzeln schaltbar) mit Farbe blau, nur auf Blumenbeet | ||
Nachbarin 2 sieht das, rennt hinter die Leinwand und zerstört voller Wut alle Blumen. Nachbarin 1, versucht, diese wieder einzupflanzen. Es entsteht ein Getümmel. Nachbarin 2 verschwindet, und Nachbarin 1 bleibt traurig vor ihrem zerstörten Blumenbeet stehen. |
Nacheinander werden Spot 1/2 und OHP 3 wieder ausgeschaltet.
OHP 1 aus |
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J. Pachelbel (wie 1b.) | 4b. Zeitungsartikel (Zeit: 1 Minute) mit folgendem Inhalt: Die Nobelpreisträgerin Wangari Maathai hat trotz massiver Bedrohungen viele, viele Bäume gepflanzt und damit neue Lebensgrundlagen geschaffen. |
OHP 2 an |
Predigt
Im “Anders Werden Gottesdienst” der Evangelischen Kirche Essen Werden zum Thema “Auge um Auge, Zahn um Zahn” hielt Pfarrer Martin Schmerkotte am 23.1.2005 die folgende Predigt, für deren Abdruckmöglichkeit ich mich herzlich bedanke, weil es dieses so oft missverstandene Thema erhellt.
(Pfarrer Schmerkotte, fotografiert von B. Gisewski)
1. Die Bibel- Grund der Eskalation von Gewalt?
– Auge um Auge – Zahn um Zahn
– Wie du mir, so ich dir!
– Das zahl ich dir heim!
(und ich lege noch etwas drauf!)
(- wie Stan und Olli es auf humorvolle Weise durchspielen im Vorfilm)
Die Spirale der Gewalt dreht sich
– wenn sich der Streit zwischen Nachbarn oder Partnern immer weiter aufschaukelt
– wenn ein Konflikt zwischen Völkern immer größere Opfer fordert
– wenn Menschen aus einer alltäglichen Stress-Situation heraus plötzlich zuschlagen
– wenn der Neid zu verbalen und körperlichen Auseinandersetzungen führt
Auge um Auge – Zahn um Zahn!
Fordert die Bibel uns damit nicht direkt auf, dass wir vergelten sollen, wenn uns jemand vermeintliches Unrecht tut?
Ist sie sogar eine Quelle solcher Gewalt?
Ist der Gott der Bibel am Ende nicht ein Gott der Rache und der Vergeltung, der solches auch von uns Menschen fordert?
2. Das Gebot begrenzt die Vergeltung
Lassen Sie uns noch einmal gemeinsam lesen, in welchem Zusammenhang wir dieses Wort finden: Auge um Auge – Zahn um Zahn
2. Mose 22, 22-25
„Wenn zwei Männer miteinander streiten und stoßen dabei eine schwangere Frau, so dass diese eine Frühgeburt erleidet (wenn sie und das Kind dabei aber ohne dauerhaften Schaden bleiben), so soll man dem Verursacher eine Geldzahlung als Strafe auferlegen, die vom Ehemann der Frau festgesetzt wird – gegeben werden soll das Geld aber durch die Hand eines Schiedsrichters.
Entsteht aber ein bleibender Schaden, so sollst du geben Leben um Leben, Auge und Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Beule um Beule, Wunde um Wunde.“
Zuerst geht es nicht um eine allgemeine Regel, sondern um einen ganz konkreten Fall:
Zwei Männer haben im Streit eine schwangere Frau so in Mitleidenschaft gezogen, dass diese eine Frühgeburt erleidet.
Aber: Mutter und Kind erleiden keinen dauerhaften Schaden.
Was soll nun geschehen?
Der Verursacher soll der geschädigten Familie eine Geldentschädigung zahlen –
Die Höhe derselben soll vom betroffenen Familienvater festgelegt werden –
ein Schiedsgericht soll feststellen, ob es sich dabei um einen fairen Betrag handelt.
Eine humane Regelung, bei der alle Beteiligten ihr Gesicht wahren können.
Selbstjustiz und Gewalteskalation werden ausgeschlossen
Was soll aber geschehen, wenn dauerhafte Schäden entstehen, bei denen man nicht so leicht wieder zur Tagesordnung übergehen kann?
Das Alte Testament spricht an der zitierten Stelle eine deutliche Sprache:
Das Maß der Vergeltung darf das Maß des verursachten Schadens nicht übersteigen.
Der Vergeltung wird eine Grenze gesetzt.
Ein Zahn (nicht drei Zähne!) für einen Zahn!
Eine Reaktion auf geschehenes Unrecht muss erfolgen – aber nicht ohne Maß und Grenze.
3. Ein Wort für Täter, nicht für Opfer
Das Alte Testament ruft nicht die geschädigte Person auf: „Du sollst vom Täter nehmen …“
Sondern: der Schuldige soll für die Vergeltung seines Tuns selbst sorgen – Du sollst geben!
Sorgt das Opfer selbst für Vergeltung, ist die Gefahr groß, dass es den Blick für das Maß verliert.
Stattdessen: der Täter selbst soll sich als Schadensverursacher erkennen und nach dem Maß des Schadens (aber auch nicht darüber hinaus) Genugtuung leisten.
4. Vergeltung – aber nicht körperlich
In diesem Zusammenhang wäre es nun Unsinn, vom Schadensverursacher zu fordern, er solle sich für den ausgeschlagenen Zahn nun selbst einen Zahn ausschlagen.
Sondern: Die Aufforderung zielt auf eine Entschädigungszahlung, die der Täter der geschädigten Person zahlen soll.
Und zwar in jeweils angemessenen Rahmen,
– nicht als Alibi-Leistung, die das Opfer kränkt
– nicht als überzogene Forderung, die dann den Täter wieder zum Opfer macht, sondern:
Auge um Auge, Zahn um Zahn!
So bleibt das Unrecht, das das Opfer erleiden musste, nicht ungesühnt.
Und dem Täter wird ein Weg vorgezeichnet, wie er sich trotz seiner Tat wieder in das soziale Miteinander einfügen kann.
5. Und wenn der Täter nicht hören will?
Wenn der Täter sich auf diesen Weg des Ausgleichs im Guten nicht einlassen will, wenn er das Opfer links liegen lässt?
Dann sind andere Stellen, staatlich oder religiös legitimierte Personen gerufen, Gerechtigkeit herzustellen.
Auch unter Ausübung von Zwang.
Doch das Wort „Auge um Auge – Zahn um Zahn“ gehört nicht in diesen Zusammenhang.
Die Praxis, Schuldigen im Rahmen des Strafvollzugs Körperteile abzuschlagen, hat es in Israel nie gegeben.
6. Jesu Wort für beherzte Opfer
Matthäus 5, 38-41: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Ich aber sage euch, dass ihr dem Übel nicht widerstehen sollt.
Sondern: wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, dem biete die linke auch dar.
Und wenn dir jemand deinen Rock nehmen will, dann lass ihm auch den Mantel.
Und wenn dich jemand zwingt, eine Meile mit ihm zu gehen, so gehe mit ihm zwei.“
Jesus schafft hier nicht – wie manchmal behauptet – das alttestamentliche Gebot ab.
Sondern: er zitiert aus dem Alten Testament, um dann seine persönliche Deutung zu geben
Jesus spricht nun zum Opfer, nicht zum Täter.
Doch er empfiehlt nun aber nicht (wie er oft verstanden wurde), Unrecht passiv und wehrlos zu erdulden.
Es ist kein Weg der Schwäche und der Schwächlinge, von dem er redet
– es ist der Weg für starke Opfer.
Überwinde Unrecht nicht durch Gewalt.
Sondern überwinde Unrecht, indem du es durch Provokation und Übertreibung als Unrecht öffentlich machst!“
Der Schlag auf die rechte Wange (ein Rechtshänder kann auf die rechte Wange nicht schlagen!) ist vor allem ein Zeichen der Beleidigung – keine Körperverletzung.
Biete die andere Wange auch dar!
Zwinge dein Gegenüber, in der Öffentlichkeit zu zeigen, dass schon der erste Schlag, die Beleidigung, ein Gewaltakt war.
Wenn er ein Mensch ist, wird er beschämt weggehen.
Jemand will dir einen Teil deiner Kleidung nehmen, die du zum Leben brauchst?
Gib ihm alles und steh nackt vor ihm.
Er wird sein Vorhaben nicht ausführen.
Ein Römer zwingt dich, ihm eine Meile weit seine Ausrüstung zu tragen?
Trage sie zwei Meilen – und er wird ins Grübeln kommen.
Aber: das sind keine allgemeinen Verhaltensregeln.
Es sind Worte für geistlich-mutige Menschen, die die innere Stärke besitzen, Unrecht zu überwinden, indem sie es öffentlich machen.
– nicht jeder kann diesen Weg gehen
– nicht jede Situation ist für diesen Weg geeignet
Und: diese Worte können nur da zur Wirkung kommen, wo im Täter ein menschlicher Kern erhalten geblieben ist, der durch solche Provokation angesprochen und angerührt werden kann.
Es bedarf der Klugheit und der Menschenkenntnis, um einschätzen zu können, ob eine solche Provokation Früchte tragen kann oder nicht.
7. Der Gott des Lebens
„Auge um Auge – Zahn um Zahn!“ oder:
„Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, dem biete die linke auch dar!“
Es ist der Gott, der unser Leben bewahren und beschützen will, der so spricht.
Sind wir mutig und kreativ genug, um auf seinen Wegen zu gehen?
– Vielleicht laden wir die staubsaugende Nachbarin auf eine Mitternachtssuppe ein?
– Vielleicht legen wir zusammen mit dem Nachbarn, den wir um seinen Vorgarten beneiden, auf der Grundstücksgrenze einen Goldfischteig an?
Was es auch sei – Gott traut es uns zu:
– Ihr müsst Gewalt nicht eskalieren lassen
– Vielleicht überwindet ihr sie sogar mit Witz und Humor
– Ihr könnt in meinem Geist die Wege des Friedens gehen. Amen.