Musikroman

Kann die Musik uns durch Krisen leiten?

Mehr dazu in meinem neuen Roman, aus dem Sie hier den Anfang und Schluss als erste Leseprobe finden. Wenn Sie weitere Infos dazu möchten (z. B. zur Veröffentlichung, die für Ende 2024 geplant ist), schicken Sie mir bitte eine Mail.

Das Meer singt in A

Wer bin ich?

Noch vor kurzem hätte Hajo Becker, ohne groß nachzudenken, erwidert: der Direktor einer Alten- und Pflegeeinrichtung! Und genauso mühelos, mit nur einem einzigen Wort, hätte er auf die Stellenanzeige für seine Nachfolge reagieren können: Was macht eine Heimleitung?Alles …

Doch seit seiner Pensionierung hatte sich eine weitere Frage hinzugesellt, und die bereitete ihm Kopfzerbrechen:
Wer möchte ich noch sein?

Manche Kollegen konnten sich wenigstens auf ihre Enkel freuen, doch seine Ehe war kinderlos geblieben. Und nun funktionierten nicht einmal mehr die alten Routinen, dafür kreisten die Gedanken in seinem Kopf wie die Möwen über der Elbmündung vor ihm. Besonders, weil er zum ersten Mal seit Ewigkeiten ohne Angela unterwegs war.

Hajo stoppte sein Fahrrad und ließ sich erschöpft auf einer Bank nieder. Hoffentlich hatte er mit seiner Entscheidung für den vorzeitigen Ruhestand die Reißleine noch rechtzeitig gezogen. Ihm grauste es vor dem psychischen Schiffbruch, den er bei manch einem seiner Heimbewohner hatte beobachten müssen; ehemalige Manager, die bis zum Schluss für die Firma ausgebrannt waren, um dann wie Sternschnuppen zu verglühen.

Erst der Blick auf sein schickes metallicblaues Pedelec beruhigte ihn ein wenig. Wenn ihn eines in all dem Berufsstress gesund erhalten hatte, dann sein Fahrrad, das er über alles liebte! Auch deshalb war er vor einer Woche etwas überstürzt aus seiner nordfriesischen Heimat zu dieser Radtour aufgebrochen, die ihm bei der Sinnsuche helfen sollte. Mit viel Sehnsucht nach Musik im Gepäck, denn auch die war in den letzten Jahren zu kurz gekommen.
Erst einmal aber musste er zur Ruhe gelangen.

Musste er?

Hajo schloss die Augen und lauschte den Klängen des Meeres. Doch er brauchte mehrere Anläufe, bis er sich auf eine Meditation mit der Brandung einlassen konnte. Dabei bemerkte er, dass die Wellen in einem eigenen Ton rauschten, den er eine ganze Weile mitsummte. Ob sich die Frequenz messen ließ? Er öffnete die Gitarren-Stimm-App seines Handys, die sich beim A einpendelte. Tatsächlich, das Meer sang in A, Alpha und Omega, Anfang und Ende.

Der Auftakt war geschafft, der Einstieg in das Pensionärsdasein. Nun galt es, neue Lebensziele zu finden.

Quietschende Fahrradbremsen rissen ihn aus den Gedanken, und auf der freien Bank neben ihm ließ sich ein von Kopf bis Fuß in neongelbem Sicherheitsoutfit erstrahlender Radtourist nieder. Vermutlich würde jetzt die übliche Frage nach Hajos XXL-Gepäckträgererweiterung folgen, aus der eine Transportbox so spektakulär über das Hinterrad aufragte, dass man schon alles Mögliche darin vermutet hatte: eine Angelausrüstung, ein Golfschläger-Set, ja sogar ein Teleskop zur Himmelsbeobachtung.

Doch den Radler schien der Inhalt des länglichen Koffers nicht zu interessieren. „Moin, was haben Sie denn da für einen komischen schwatten Schal um ihren Hals, mitten im Sommer?“

„Ein Airbag für Radfahrer, ersetzt den Helm. Ich brauch Luft um die Ohren.“

„Dafür hat mein Helm Kopfhörer und kann blinken.“

Auch das noch! Hajo wandte sein spärliches Grauhaar von dem Leuchtkäfer ab, doch der ließ sich nicht abwimmeln und deutete auf das Wasser hinaus. „Da kommt die neue Elbfähre, Platz für über zweihundert Autos und sechshundert Personen. Läuft mit Flüssiggas, viel umweltfreundlicher als die alten Diesel.“

Schon von Weitem lud das schnittige Fährschiff mit seiner munteren Farbgebung zum Mitfahren ein. „Und wo kommt die her?“

„Aus Cuxhaven. Braucht nur eine Stunde.“

„Klingt doch einladend, ganz ohne Gestank über die Elbe“, überlegte Hajo laut.

Die radelnde Leuchtboje grinste ihn unverschämt an. „Apropos Gestank. Gab‘s Ihren schwatten Schal nicht auch in Weiß, damit der die Sonnenhitze reflektiert? Ziehen Sie den bloß nicht unter Deck aus, sonst riecht das schöne neue Schiff direkt nach Pumakäfig.“

Anscheinend ein Komiker! „Den gab’s nur noch in Neongelb, und das wollte ich meiner Frau nicht antun“, rief Hajo beim Losradeln.

Angela …

Wie es ihr wohl erging, da draußen auf dem Jakobsweg?

Die Greenferry näherte sich dem Brunsbütteler Anleger mit weit geöffnetem Bugvisier, einem riesigen Haifischmaul, das einen Konvoi von LKWs ausspie. Ohne groß nachzudenken, besorgte sich Hajo ein Ticket und schob sein Rad an Bord. Früher, im Arbeitstakt, hätte er niemals so aus dem hohlen Bauch heraus reagiert. Entwickelte sich nun gerade dies zum Plan?

Ein Parkdeckeinweiser mit Funkgerät und fluoreszierender orangener Arbeitskleidung kam strammen Schrittes auf ihn zu. Schon wieder Glühwürmchen-Alarm? „Hömma, wat hast du da alles an dein Mopped dran? Maschinengewehre an Bord sind verboten!“

Auf eine Jagdflinte hatte man schon mal spekuliert, aber eine Schnellfeuerwaffe? Das war neu, noch dazu im Ruhrgebietsslang, höchst ungewöhnlich hier draußen auf der Elbe.

„Bloß mein Tenorsaxophon“, versuchte Hajo ihn zu beruhigen. Glücklicherweise hatte eine Schneiderin in seinem Heimatstädtchen die Fahrradtasche für den Gepäckträger so umgenäht, dass sich damit sein Drahtesel in ein Lastenrad verwandelte. Denn sein Saxophon musste unbedingt mit. Der warme, weiche Klang des Tenorinstrumentes, mit dem er wie auf einem Cello spielen konnte, würde ihn auffangen, wenn er unterwegs die Orientierung verlieren sollte.

„Kriegen wir endlich ’ne Bordkapelle? Oder bist du auf Tournee mit dat viele Gepäck? Dat so ein E-Bike dat aushält!“

Gleich dreimal hintereinander dat! Eigentlich mochte Hajo kein Ruhrdeutsch, das er schnell als zu rauh und direkt empfand. Doch nun strahlte es, gepaart mit dem herzlichen Humor des Parkdeckeinweisers, eine solche Wärme aus, dass Hajo seine norddeutsche Zurückhaltung schnurstracks über Bord warf. „Ich musste einfach mal zuhause raus, egal wohin …“

„Ärger mitti Perle?“

„Nicht direkt …“

„Verstehe!“ Der Ruhrpöttler musterte Hajo mit einem mitfühlenden Blick, dann hatte er eine Entscheidung getroffen. „Als erstes brauchst du mal oben im Bordrestaurant eine Stärkung. Und danach ordentlich Seewind um die Ohren. Und ein Viertelstündchen bevor wir anlegen, gibbet hier bei mir den Nachtisch. Bis dahin werf ich ein Auge auf deine elektrische Sackkarre, dat du die Kreuzfahrt genießen kannst.“

Hajo bedankte sich herzlich dafür, dass der sympathische Bootsmann ihn von der bisher größten Sorge auf dieser Tour befreite: Sein Instrument aus der berühmten Selmer Manufaktur in Paris war so wertvoll, dass er sich selbst bei einem kurzen Toilettenaufenthalt kaum traute, das bepackte Rad unbewacht abzustellen.

„Übrigens, von die doppelte Currywurst lass die Finger, die schmeckt nur im Pott. Nimm lieber die Bockwurst, die ist spitze.“

Coda

https://youtu.be/3JQMIUrOMt4?feature=shared

Anmerkung:

Sie werden meinen Musikroman nicht nur lesen, sondern mit vielen besonderen Musikbeispielen auch „nachhören“ können, so wie oben bei der Coda über den Link, mit dem der Roman endet. Wie gesagt: Wenn Sie weitere Infos dazu möchten (z. B. zur Veröffentlichung, die für Ende 2024 geplant ist), schicken Sie mir bitte eine Mail.